An diesem Sonnabend in genau einem Jahr sind Europawahlen – und die Politiker sehen dem mit gemischten Gefühlen entgegen. Nicht nur in Deutschland gewinnen die EU-Kritiker an Gewicht, lässt das Schlimmes erahnen? Wie soll die EU darauf reagieren, zurückhaltend oder mit einer „Jetzt erst recht…“-Position. In einem Pro und Contra gehen Klaus Wallbaum und Martin Brüning auf diese Frage ein.

Noch mal kurz in den Europa-Roman von Robert Menasse hineinschauen: Klaus Wallbaum (li.) und Martin Brüning – Foto: isc

PRO: Die EU braucht mehr Kompetenzen, denn alles andere wäre rückschrittlich. Der Weg dahin kann an einer Stärkung des EU-Parlaments nicht vorbeiführen, meint Klaus Wallbaum.

Zurück in die Nationalstaaten? Der Brexit als Vorbild für alle stolzen Nationen des „alten Europa“? Das ist kein erfolgversprechender Weg. Die nationalistischen, populistischen und EU-kritischen Bewegungen in vielen europäischen Ländern fördern bei vielen Betrachtern das Unwohlsein, wenn es um die Zukunft der EU geht. Manche meinen, man könne die Nationalisten nur in Schranken halten, wenn man ihren Forderungen nachgibt und die Gemeinschaftsrechte der EU abbaut, statt sie auszuweiten. Doch das muss langfristig in eine Sackgasse führen. Die EU ist ein gemeinsamer Wirtschaftsraum, sie basiert – ihrer Vielfalt zum Trotz – auf gemeinsamen überlieferten Werten und kulturellen Prägungen. Daher gibt es zu mehr Zusammenhalt, mehr Miteinander, mehr Gemeinsamkeit und mehr Kooperation keine Alternative. Wie das zu erreichen und zu sichern ist, ist dann die zweite Frage.

Zunächst mal zu den Grundlagen: China mausert sich als neue Weltmacht, die USA unter der Donald-Trump-Administration versuchen sich als solche zu behaupten – und zwar nicht, wie in den vergangenen Jahrzehnten, in bewährter enger Anlehnung an die langjährigen Verbündeten in Europa. Daneben tritt Russland auf mit dem Anspruch auf eine Weltmachtrolle – und über fortgesetzte und vielfältige Versuche, einen Spaltpilz in die EU zu treiben. So sehr wie heute, seit Amtsantritt von Trump und seit den neuen Großmachtphantasien von Putin, hat Europa noch nie gespürt, am Ende auf sich allein gestellt sein zu können – abseits von den USA, die nicht mehr den Anspruch haben, als „großer Bruder“ schützend zur Seite zu stehen. Das rüttelt an der Basis der Nato, deshalb hat Frankreichs Präsident Emmanuel Macron völlig recht, wenn er von einer gemeinsamen europäischen Armee spricht. Deshalb ist auch eine noch bessere Verzahnung der Finanz- und Wirtschaftspolitik sinnvoll. Die Ängste gerade vieler Politiker in Deutschland, die hiesige stabilitätsorientierte, von Sparsamkeit geprägte Haushaltspolitik könne einer südeuropäischen Ausgabenfreude geopfert werden, sind ernst zu nehmen. Man muss vorsorglich Regeln schaffen, beispielsweise eine machtvolle Kontrollinstanz als Europäischer Zentralbank. Falsch wäre es aber, sich aus Angst vor einem Verlust der seriösen Finanzpolitik in der EU in ein nationales Schneckenhaus zurückzuziehen. Statt am Ob einer gemeinsamen EU-Finanz- und Steuerpolitik zu zweifeln, sollten die Bedenkenträger in Deutschland lieber am Wie arbeiten – und ein Modell mit möglichst vielen Sicherungen entwerfen.

Die gestärkte EU darf nicht länger als Horrorszenario erscheinen. Sie muss vielmehr eine angenehme Vision werden. Woran liegt es aber, dass beim Gedanken an die EU in Deutschland (wie in vielen anderen Mitgliedsstaaten) keine Euphorie aufkommen mag? Zwei Gründe dürften dabei vor allem eine Rolle spielen. Erstens hat sich die EU-Bürokratie, vertreten durch die EU-Kommission, über viele Jahre einen schlechten Namen gemacht. Da ging es um den Krümmungsgrad von Bananen, um die Beschaffenheit von Glühbirnen oder jüngst um ein komplexes und verwirrendes Machwerk zum Datenschutz, das von vielen in Behörden und Unternehmen als unpraktikabel und wirklichkeitsfremd beschrieben wird – eben als ein typisches Produkt einer bürgerfernen Bürokratie. Man könnte fast sagen, dass sich die EU-Verwaltung in Brüssel an vielen Stellen ausgetobt und damit ihr eigenes Ansehen verspielt hat. Zweitens hat die EU bisher den ihr innenwohnenden Konflikt, ein Staatenbund oder ein Bundesstaat zu sein, nicht geklärt – sie trägt Elemente von beidem in sich, und das macht die Entscheidungswege so unendlich schwierig, aufwendig und langwierig. Die Entscheidung vor der Europawahl 2014, den siegreichen Spitzenkandidaten des stärksten politischen Lagers im EU-Parlament zum neuen Kommissionspräsidenten (also Regierungschef) zu küren, hat daran nicht viel geändert.

Wer aus lauter Angst vor den Nationalisten im Nichtstun oder Abwarten verharrt, verliert wichtige Zeit für eine überfällige Stärkung der EU.

Das Staatenbund-Prinzip besagt, dass sich die Regierungschefs der EU-Mitgliedsländer (die kleinen wie die großen) immer einig sein müssen, wenn es um Grundsatzfragen der Außenpolitik, um die EU-Finanzen oder um die Aufnahme neuer Mitglieder geht. Für andere, weniger zentrale Fragen gilt die „qualifizierte Mehrheit“ – ein Ja von 55 Prozent der Länder, die mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren müssen. Solange aber in den wichtigen Fragen die Einstimmigkeit weiter gefordert wird, dürfte sich an der oft beklagten Langsamkeit der EU nichts ändern. Das gilt umso mehr, als in vielen Ländern – jüngst Italien – EU-kritische Strömungen an Macht und Einfluss gewinnen. In einer solchen Zeit traut sich in Europa kaum jemand, für einen Abbau an nationaler Souveränität zugunsten einer gestärkten EU zu werben. Daneben gibt es zwar das Bundesstaat-Prinzip, es wird repräsentiert durch das EU-Parlament, das tatsächlich auch an Einfluss gewonnen hat. Doch das Nebeneinander von gestärktem EU-Parlament und seine alte Stärke verbissen verteidigendem EU-Rat der Staats- und Regierungschefs hat die EU bisher nicht attraktiver werden lassen. Sie wirkt wie paralysiert durch verschiedene Machtblöcke und aufgerieben durch den eigenen Ansehensverlust. Der Brexit ist dabei noch ein Beschleuniger.

Was ist zu tun? Die Politiker müssen einen mutigen Schritt nach vorn wagen, dabei dürfen nationale Rechte kein Hindernis sein. Wer aus lauter Angst vor den Nationalisten im Nichtstun oder Abwarten verharrt, verliert wichtige Zeit für eine überfällige Stärkung der EU. Manchmal müssen Politiker auch das Unpopuläre tun. Und wenn das dann dazu führt, dass einige Länder nicht länger Mitglied in der Gemeinschaft sein wollen, dann sollen sie bitteschön gehen – sie werden es sich vermutlich dreimal überlegen. Wie wohl auch viele Briten inzwischen bereuen, was sie getan haben.

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CONTRA: Das europäischen Projekt muss vom Kopf wieder auf die Füße gestellt werden. Wer zu keiner gemeinsame Flüchtlingspolitik in der Lage ist, benötigt auch keinen gemeinsamen Haushalt. Nur mit einem „Kerneuropa“ wird man Macrons Pläne überhaupt im Ansatz diskutieren können, meint Martin Brüning.

Auch als überzeugter Europäer muss man der Tatsache ins Auge sehen, dass die Gräben in den vergangenen Jahren eher tiefer und die Unterschiede größer geworden sind. Man reibt sich über manche Entwicklungen in anderen europäischen Staaten verwundert die Augen. In Italien koaliert voraussichtlich bald eine europaskeptische Koalition aus der Protestbewegung Fünf Sterne und der stramm-rechten Lega Nord. Die Süddeutsche schreibt von einem Bündnis „zwischen Horror und Tragikomödie“. Ungarn wird von einem Rechtsnationalisten regiert, der weder von Liberalität noch von Pressefreiheit besonders viel hält. Die Regierung in Polen entwickelt sich immer stärker zu einem autoritären Regime. Mit Großbritannien wird derzeit hart über die Folgen des Brexits verhandelt. Und einige der 26 Schengenländer haben die Überwachung an ihren Binnengrenzen verlängert. Europa ist in einem beklagenswerten Zustand. Man kann sich fast darüber wundern, dass die Länder des westlichen Balkans immer noch darauf erpicht sind, Mitglieder dieser Europäischen Union zu werden. Bei der Verleihung des Karlspreises in Aachen sprach Kanzlerin Angela Merkel vom „Zauber Europas“. Selbst europafreundliche Zeitgenossen fragen sich angesichts aktueller Entwicklungen manchmal: Welcher Zauber war das noch mal?

Klar ist, dass es wie bisher nicht weitergehen kann. Ein Scheitern des europäischen Traums scheint inzwischen näher als eine positive Fortentwicklung der Union. Abseits der Sinnhaftigkeit der vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron angeregten Reformen würden sich diese im aktuellen Club der 28 nicht einmal im Ansatz umsetzen lassen. Bevor es deshalb um einen gemeinsamen Haushalt oder eine gemeinsame Verteidigungspolitik geht, muss die Frage geklärt werden, welche Staaten überhaupt dazu bereit sind. Man wird Deutsche und Franzosen nur schwer davon überzeugen können, mit Staaten noch enger zusammenzuarbeiten, die beim vom Europäischen Parlament vorgeschlagenen „Demokratie-Check“ vermutlich durchfallen würden. In der Zusammenarbeit fehlt derzeit die wichtigste Komponente: Vertrauen. Es wäre aber die Voraussetzung für mehr Kompetenzen der EU. Das fehlende Vertrauen lässt sich auch durch die von Macron angedachten Reformen nicht wieder herzustellen.

Die Zukunft der Europäischen Union führt nach aktuellem Stand der Dinge nur über ein Europa der zwei Geschwindigkeiten.

Das europäischen Projekt muss vom Kopf wieder auf die Füße gestellt werden. Wer zu keiner gemeinsame Flüchtlingspolitik in der Lage ist, benötigt auch keinen gemeinsamen Haushalt. Wer sich in Europa die Vorteile der EU herauspicken, sich aber gleichzeitig nicht an die Regeln halten möchte, kann in einem solchen Bündnis keine Zukunft haben. Das gilt für Großbritannien ebenso wie für Polen und Ungarn, die sich nicht an die demokratischen Grundregeln halten. Die Zukunft der Europäischen Union führt nach aktuellem Stand der Dinge nur über ein Europa der zwei Geschwindigkeiten. Nur mit einem „Kerneuropa“ wird man Macrons Pläne überhaupt im Ansatz diskutieren können und die Chance haben, die Bevölkerung der Länder im Ansatz von mehr Kompetenzen der EU-Institutionen zu überzeugen.

„Erst ein funktionierendes Kerneuropa könnte die in allen Mitgliedsstaaten polarisierenden Bevölkerungen vom Sinn des Projekts überzeugen“, sagte der Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas nach dem Brexit-Votum. Er verspricht sich davon, dass auch die Skeptiker durch ein funktionierendes Vorbild nach und nach für eine weitere Vertiefung gewonnen werden können. Dabei müssten allerdings auch die Kerneuropa-Mitglieder, das könnten zum Beispiel die Euro-Länder sein, Zugeständnisse machen. Das gilt für Frankreich, das Souveränitätsverluste hinnehmen müsste, ebenso wie für Deutschland. Die Bundesrepublik wird sich dann einer engeren finanzpolitischen Kooperation nicht mehr verschließen können und auch die eigene Flüchtlingspolitik überdenken müssen, mit der sie in Europa viel Glas zerschlagen hat. Die Ergebnisse einer stärkeren Abstimmung mit den europäischen Partnern in der Flüchtlingspolitik dürften in Deutschland nicht allen gefallen.

„Wir dürfen nicht warten, wir müssen jetzt handeln“, hat Macron in Aachen gesagt. Allerdings macht er den zweiten Schritt vor dem ersten. Seine Vorschläge können erst in Politik und Gesellschaft diskutiert werden, wenn es einen „offenen Kern“ gibt, der sich zur stärkeren Zusammenarbeit bekennt. Die Vereinigten Staaten von Europa waren ein schöner Traum, den unter anderem der ehemalige Bundesaußenminister Guido Westerwelle immer wieder beschworen hat. Aber es ist gerade nicht die Zeit für Träume. Jetzt ist zunächst einmal harte Arbeit nötig, um die arg gebeutelte EU wieder auf den richtigen Weg zu führen. Auch Optimisten wissen, dass es ein langer Weg werden wird. Robert Menasse, der für seinen Brüssel-Roman „Die Hauptstadt“ im vergangenen Jahr mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde, hat dem Buch nicht ohne Grund ein Zitat des Autors Victor Hugo voranstellt. „Träumen ist das reine Glück. Warten ist das Leben.“

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