Was bedeutet die Corona-Krise für die sozial schwachen und hilfsbedürftigen Menschen? Seit Jahresanfang stehen Hans-Joachim Lenke von der Diakonie und Marco Brunotte von der Arbeiterwohlfahrt an der Spitze der Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege. Beide äußern sich im Interview mit Rundblick-Chefredakteur Martin Brüning.

Rundblick: Im Hinblick auf Corona ist immer wieder vom Brennglas die Rede, das viele Probleme deutlicher hervortreten lässt. Wo sehen Sie Probleme, die in der Krise deutlich werden?

Lenke: Die Sorge vor Armut in der Gesellschaft tritt jetzt deutlicher hervor, denn das Thema kommt nun auch stärker in der Mittelschicht an. Viele Familien sind in der Krise in Nöte geraten. Zum Beispiel bekommen ja längst nicht alle Beschäftigten, die in Kurzarbeit sind, einen Zuschlag von ihrem Arbeitgeber. Wenn das Familieneinkommen aber vorher schon verplant war, ob für die Wohnung oder den Kredit, dann liegen oft mit wenig Geld plötzlich noch sehr viele Tage im Monat vor einem. Die Corona-Krise droht auch deshalb zu einer Armutskrise zu werden. Wer schon vor Corona arg zu knapsen hatte, den trifft Corona doppelt.

Bei vielen Familien hat die Pandemie zu großen Existenznöten geführt. Wer vor Corona arm war, ist in der Regel durch Corona noch ärmer geworden.

Brunotte: Das kann ich nur bekräftigen. Bei vielen Familien hat die Pandemie zu großen Existenznöten geführt. Wer vor Corona arm war, ist in der Regel durch Corona noch ärmer geworden. Auf der einen Seite werden die Probleme des Grundalltags verschärft, zum Beispiel durch die Pflicht, FFP2-Masken oder OP-Masken beim Einkaufen und im ÖPNV zu tragen. Das bedeutet für viele eine große finanzielle Herausforderung, da sie sich gerade die FFP2-Masken nicht leisten können. Auf der anderen Seite sind Menschen durch Corona reicher geworden, die Schere geht auseinander. Diese Problemlage wird jedoch nicht allein durch eine weitere kurzfristige finanzielle Unterstützung von besonders belasteten Familien, wie zum Beispiel mit dem Corona-Kinderbonus, behoben. Eine Neuauflage des Corona-Kinderbonus ist gut und hilft jetzt akut – aber auf lange Sicht müssen wir grundsätzlich einmal an die Probleme heran, von der Kindergrundsicherung bis zu Hartz IV.

Rundblick: Das hört sich sehr grundsätzlich an. Da werden jetzt viele einwenden, dass durch die Corona-Krise kein Geld für Reformen vorhanden ist.

Lenke: Das sollten wir nicht zulassen, im Gegenteil: Wir brauchen jetzt einen gesellschaftlichen Diskurs, welchen Mehrwert das Soziale hat. Gerade jetzt muss man zum Beispiel auch über die Höhe der Hartz IV-Sätze sprechen. Es ist der richtige Zeitpunkt, weil die Probleme gerade deutlich zu sehen sind. Leistungsempfänger müssen schon immer sehr genau rechnen, das gilt erst recht in diesen Zeiten. Man muss hier grundsätzlich noch einmal an die Art und Weise herangehen, wie der Bedarf ermittelt wird, die Bemessungsgrundlage ist nicht stimmig.

Da werden einige plötzlich mit Hygiene- und Schutzmaterial reich und die anderen müssen schauen, wie sie diese Schutzausrüstung bezahlen können.

Brunotte: Gerade in diesen Zeiten kommen auch noch Preisschwankungen im Markt hinzu, die uns teilweise wirklich wütend gemacht haben. Da werden einige plötzlich mit Hygiene- und Schutzmaterial reich und die anderen müssen schauen, wie sie diese Schutzausrüstung bezahlen können. Wir müssen darüber sprechen, was in dieser Gesellschaft der Markt regelt und was zur Daseinsvorsorge gehört.

Rundblick: Wo sollte sich denn Ihrer Ansicht nach der Staat stärker einschalten?

Brunotte: Nicht alles muss der Staat selber machen. In vielen Fällen kann auch der Vorrang der freien Wohlfahrtspflege als Ausdruck der Subsidiarität gelten. Da muss etwas wieder ins Lot gebracht werden. Wir haben private Kita-Träger, die mit Renditeerwartung einen staatlichen Bedarf decken wollen. In Niedersachsen gibt es im Vergleich der Bundesländer viele private Anbieter in der Pflege. Wir müssen darüber sprechen, was der geschützte Kernbereich öffentlichen Handelns ist und was man teilweise wieder in diesen geschützten Bereich der Daseinsvorsorge zurückholt. Da ändert sich ja gerade auch die Diskussion, man sieht es an den Krankenhäusern. Niemand beklagt mehr die Zahl der Betten in den Kliniken. Vielleicht lässt uns Corona manche Dinge noch einmal unter einem anderen Aspekt betrachten.

Auch abseits der Pandemie muss es uns doch eigentlich die Schamesröte ins Gesicht treiben, dass es unsere Gesellschaft nicht hinbekommt, Kindern eine schulische Laufbahn zu ermöglichen, die nicht abhängig vom Einkommen der Eltern ist.

Rundblick: Ein besonderer Fokus liegt in der Krise auch auf den Kindern – wo sehen Sie hier die Herausforderungen?

Lenke: Auch abseits der Pandemie muss es uns doch eigentlich die Schamesröte ins Gesicht treiben, dass es unsere Gesellschaft nicht hinbekommt, Kindern eine schulische Laufbahn zu ermöglichen, die nicht abhängig vom Einkommen der Eltern ist. Und jetzt kommen auch noch die Probleme durch die Corona-Krise hinzu. Home-Schooling ist für Eltern teilweise eine echte Überforderung. Es braucht Unterstützung, und nicht alle Eltern können das leisten.

Brunotte: Da muss man auch einmal auf die Langzeitfolgen schauen. Was machen wir zum Beispiel mit den Kindern, die seit Monaten in einer Home-Schooling-Situation sind? Da werden Eltern-Kind-Einrichtungen ganz wichtig, die müssen ausfinanziert sein. Hier gibt es zum Beispiel erste Einrichtungen, die dauerhaft aus wirtschaftlichen Gründen schließen müssen. Es gibt einen großen Bedarf an sozialen Unterstützungsangeboten für Familien. Die Fallzahlen gehen nach oben, das war in der ersten Phase der Pandemie so nicht sichtbar.

Lenke: Und vielleicht noch ein Aspekt, der bis jetzt noch nicht so im Fokus stand: Die Finanzierung gerade der freiwilligen Leistungen von Kommunen bereitet uns große Sorgen. Im vergangenen Jahr gab es in der Krise eine Kompensation des Bundes, unklar ist, wie das in diesem und im kommenden Jahr laufen wird. Wenn es keinen Ausgleich gibt, fallen häufig als erstes freiwillige Leistungen weg, die gerade benachteiligten Menschen zugutekommen. Diese Strukturen dürfen uns in den Kommunen auf keinen Fall wegbrechen. Wir brauchen ein funktionierendes soziales Netz in dieser Gesellschaft, ansonsten droht uns eine Unwucht.