Die Corona-Pandemie gilt als überwunden. Doch diese Phase mit ihren Unsicherheiten und ihren strengen Schutzmaßnahmen hat Wunden hinterlassen. Menschen wurden persönlich verletzt, ganze Bevölkerungsteile stehen einander noch immer unversöhnlich gegenüber. Eine Aufarbeitung konnte aber angesichts der neuen Krisen bislang nicht vorgenommen werden. Was kann helfen? Ein Blick auf das Narbengewebe, das sich auf der Seele der Gesellschaft gebildet hat. Heute: der Wandel der Arbeitswelt.

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„Disruption“ lautete in der Wirtschaft das Schlagwort des Jahres 2020. Naturkatastrophen, Lieferkettenprobleme, Chipmangel, politische Machtumbrüche und die Covid-19-Pandemie krempelten so gut wie alle Bereiche des Wirtschaftslebens um. Die disruptivste Störung dürfte jedoch die Einführung des Corona-Lockdowns gewesen sein: Plötzlich durften die Angestellten nicht mehr ins Büro kommen, sondern mussten ohne Ansteckungsgefahr durch die Kollegen zuhause arbeiten. Die deutsche Arbeitswelt erlebte eine unerwartete Renaissance der Arbeitswelt, in der Homeoffice schlagartig zur neuen Normalität für eine breite Masse von Beschäftigten wurde. Doch seit dem Ende der Pandemie scheinen die alten Vorbehalte gegenüber dem mobilen Arbeiten wieder die Oberhand zu gewinnen. Nicht nur im eher konservativen Deutschland, sondern weltweit holen immer mehr Unternehmen – darunter auch Innovationstreiber wie etwa Amazon, Apple, Meta oder Google – ihre Angestellten zurück ins Büro. Die Gewerkschaften wollen die endlich erkämpften Freiheiten jedoch nicht einfach so aufgeben. Zudem warnen Arbeitsforscher – darunter auch das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Köln – die Unternehmen davor, wieder in alte Muster zu verfallen.

Die deutschen Vorbehalte gegen Homeoffice sind tief verwurzelt. Erst als der Heimcomputer in den 80er-Jahren allmählich immer mehr Verbreitung fand, entwickelte sich ein neuer Trend: Telearbeit. Bis dahin galt in der Bundesrepublik die Idee, dass jemand von zu Hause einer geregelten Beschäftigung nachgeht, als kuriose Randerscheinung der modernen Industriegesellschaft. Gerade mal 140.000 Heimarbeiter zählte das Bundesamt für Statistik im Jahr 1981, das waren nur 0,5 Prozent der Beschäftigten und zu 88 Prozent Frauen. Die Digitalisierung eröffnete aber plötzlich nicht nur der Näherin und dem Versicherungsagenten die Möglichkeit, von zu Hause zu arbeiten, sondern auch dem ganz normalen Büroarbeiter – zumindest in der Theorie. „Die Telearbeit ist ein Phänomen mit hohem Aufmerksamkeitswert und geringer Realisierung“, analysierte Werner Dostal vom Institut für Arbeitsmarkt- und Bildungsforschung (IAB) im Jahr 1985. Durch die Erfindung des World Wide Web stieg der Realisierungsgrad kontinuierlich an: 2003 arbeitete laut EU-Arbeitskräfteerhebung jeder siebte Deutsche entweder ausschließlich oder gelegentlich von zuhause. Dann setzte eine schleichende Heimarbeitsmüdigkeit ein, aus der die Bundesrepublik erst durch die Corona-Pandemie wieder geweckt wurde.

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Am 7. Januar 2021 riefen Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und die Regierungschefs der Länder jedoch eine Homeoffice-Pflicht aus. Wer konnte, musste das Büro gegen den Heimarbeitsplatz eintauschen. „In der Spitze arbeitete im Februar 2021 fast die Hälfte (49 Prozent) der abhängig Beschäftigten in Deutschland in ihrer häuslichen Umgebung“, heißt es in der Homeoffice-Bilanz des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) Köln. Die 20 Prozent der deutschen Angestellten, denen der Wunsch nach mobilem Arbeiten bis zur Pandemie bislang verwehrt wurde, dürften diese Zeit mit gemischten Gefühlen erlebt haben. Denn die Krisenzeit offenbarte, dass in der deutschen Arbeitswelt viel mehr Flexibilität möglich ist als sich alle Beteiligten bislang eingestanden hatten. Erst kurz vor Corona hatte die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung in einer Umfrage nach den Gründen geforscht, weshalb die Beschäftigten nicht ins Homeoffice wechseln. „Der häufigste Grund für den Verzicht auf Homeoffice ist die Einschätzung, dass Arbeit von zu Hause nicht zum Job passe. Dies sagten knapp 80 Prozent der Befragten. Fast 70 Prozent gaben an, Anwesenheit am Arbeitsplatz sei dem Chef wichtig. 60 Prozent hielten Arbeiten von daheim auf ihrer Stelle für technisch unmöglich“, lautete das Ergebnis der Studie.

Eine nachhaltige Revolution der Arbeitswelt hat trotz Corona-Disruption nicht stattgefunden. „Die empirische Evidenz legt nahe, dass der Verbreitungsgrad des Arbeitens von zuhause zunehmen wird – nicht zuletzt aufgrund gemeinsamer positiver Erfahrungen in den vergangenen knapp zwei Jahren mit dieser Arbeitsform“, analysierte zwar Arbeitswelt-Experte Oliver Stettes vom IW Köln. Er sagt aber auch: „Wo sowohl Beschäftigte als auch Betriebe hingegen ihre Vorbehalte gegenüber dem Homeoffice bestätigt sehen, werden sie zur Präsenzarbeit zurückkehren, wenn die Umstände dies erlauben.“ Für den Arbeitswissenschaftler befindet sich die Wirtschaft nun in einem „Aushandlungsprozess“, in dem Arbeitgeber und Angestellte eine Balance zwischen der Wettbewerbsfähigkeit des Betriebs und der Arbeitszufriedenheit der Angestellten zu erreichen versuchen. Als Störfaktor betrachtet der IW-Experte dabei den „Erörterungsanspruch auf mobiles Arbeiten“, der die Balancefindung stören könne.


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Die deutsche Chemie- und Pharmabranche ist im Prozess des Austarierens schon relativ weit gekommen, wie eine aktuelle Studie im Auftrag des Bundesarbeitgeberverbandes Chemie (BAVC) und der Gewerkschaft IGBCE zeigt. Rund 70 Prozent der befragten Betriebe verfügen bereits über eine Betriebsvereinbarung mit der Möglichkeit zum ortsflexiblen Arbeiten, weitere 24 Prozent arbeiten daran. Dabei gelte die Faustregel: „Je mehr Wissensarbeit, desto digitaler und damit mobiler die Arbeit.“ Die Untersuchung des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) zeigt außerdem, dass mobiles Arbeiten bei drei Viertel der Beschäftigten mit einer Stressreduktion einhergeht, aber auch die Gefahr der sozialen Erosion birgt. „Mehr als die Hälfte der Befragten gab an, weniger sozialen Austausch zu haben und knapp ein Viertel stellte weniger kreatives Zusammenarbeiten fest“, heißt es. Ein Viertel der Angestellten beklagte zudem, dass die Grenzen zwischen Beruflichem und Privatem verschwimmen. Die Frage, wo die Arbeitnehmer nach eigener Einschätzung effizienter arbeiten, wird in der Studie sehr klar beantwortet: „Knapp 90 Prozent der Befragten berichteten, dass sie mobil störungsfreier und konzentrierter arbeiten. Gut zwei Drittel gaben an, weniger unproduktive Zeiten zu haben.“

„Die Studie zeigt deutlich: Dafür, wieder dauerhaft auf fünf Tage Anwesenheit im Büro zu drängen, gibt es keine Argumente. Was wir aber brauchen, sind klare Regeln für alle Aspekte der mobilen Arbeit, um die Beschäftigten zu schützen“, erklärt IGBCE-Tarifvorstand Oliver Heinrich. „Mobiles Arbeiten ist aus dem Arbeitsalltag der chemischen Industrie nicht mehr wegzudenken. Die neue Arbeitswelt funktioniert hervorragend“, bestätigt BAVC-Hauptgeschäftsführer Klaus-Peter Stiller. Doch selbst in der chemisch-pharmazeutischen Industrie, wo die Sozialpartner besonders harmonisch zusammenarbeiten, ist der Kampf ums Homeoffice noch nicht beendet. „Aus Arbeitgebersicht besteht derzeit kein akuter tarifpolitischer Handlungsbedarf“, sagt Stiller. „Wir sehen einen klaren tarifpolitischen Handlungsauftrag“, widerspricht Heinrich. Insbesondere der wachsenden „Entgrenzung von Arbeit und Privatem“ müsse man entgegenwirken, der Schutz der psychischen Gesundheit dürfe nicht allein Privatsache sein, sagt der Gewerkschafter. Der Umfang des mobilen Arbeitens dürfte ebenfalls noch für einige Diskussionen sorgen. „Mobil arbeitende Beschäftigte sind an durchschnittlich zwei bis drei Tagen pro Woche im Homeoffice. In der Studie äußern sie zugleich den Wunsch nach drei bis vier Tagen mobiler Arbeit pro Woche“, schreiben die Forscher des Fraunhofer IAO. Fazit: Im Streit ums Homeoffice geht die Balancefindung weiter, die beiden Seiten nähern sich aber immer mehr an.