Von Martin Brüning

„Tschüss, SPD“ stand am Sonnabend auf Plakaten, die Teilnehmer auf der Demonstration gegen die Pflegekammer hochhielten. 90.000 Pflegekräfte gibt es in Niedersachsen, gerade für die SPD sind darunter zahlreiche potenzielle Wähler. Die Partei hat also derzeit Boden gut zu machen. So war es wenig verwunderlich, dass in der von der SPD-Fraktion initiierten aktuellen Debatte zu den Arbeitsbedingungen in der ambulanten Pflege niemand Geringeres als die Fraktionsvorsitzende Johanne Modder ans Rednerpult ging.

Hintergrund der Debatte war der Streit zwischen den Arbeitgeberverbänden der AWO und der Diakonie auf der einen, den Pflegekassen auf der anderen Seite. AWO und Diakonie haben damit gedroht, aus der ambulanten Pflege auszusteigen, weil die Kassen ihre Leistungen nicht kostendeckend vergüteten. Käme es wirklich zu einem Ausstieg, wären davon 16.000 Pflegebedürftige und 5000 Pflegekräfte betroffen. Jetzt liegt der Fall beim
Schiedsgericht.

Ohne eine vernünftige Refinanzierung ist der Grundsatz ‚ambulant vor stationär‘ nicht mehr zu halten.

Von einem „unwürdigen Schauspiel auf dem Rücken von Pflegebedürftigen“, sprach Modder am Donnerstag im Landtag. Die Kostenträger seien dabei, die Pflege in Niedersachsen an die Wand zu fahren. „Wir reden schon lange nicht mehr von menschlicher Zuwendung, stattdessen wird in Fachkreisen von einer Rennpflege gesprochen“, sagte die SPD-Fraktionsvorsitzende, die ein konsequentes Umdenken der Pflegekassen forderte. „Ohne eine vernünftige Refinanzierung ist der Grundsatz ‚ambulant vor stationär‘ nicht mehr zu halten.“

Ein wichtiger Baustein sei auch ein Tarifvertrag Soziales, um flächendeckend faire Arbeitsbedingungen zu gewährleisten. Die Forderung nahm Stephan Bothe von der AfD-Fraktion, selbst ausgebildeter Altenpfleger und danach Pflegefachkraft im Maßregelvollzug, Johanne Modder nicht ab. Er sei noch in der Ausbildung gewesen, da habe die SPD schon von einem Tarifvertrag Soziales gesprochen, sagte Bothe. „Die Pflege sitzt auf einem Pulverfass und die Politik hat seit Jahren nicht gegengesteuert. Das Finanzierungssystem der ambulanten Pflege ist völlig überfordert.“ Der AfD-Politiker übte scharfe Kritik an AWO und Diakonie. Es sei unverantwortlich, mit einem Ende der Verträge zu drohen.

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Niedersachsens Sozialministerin Carola Reimann zeigte zwar großes Verständnis dafür, dass AWO und Diakonie an die Öffentlichkeit gegangen sind. „Aus meiner Sicht kann es aber nicht der richtige Weg sein, Pflegedienste zu schließen, wie es jetzt angedroht wird,“ mahnte sie. In der Antwort auf eine Dringliche Anfrage am selben Tag nannte Reimann die Drohung der Arbeitgeberverbände „nicht klug“. „Ich erwarte, dass die Vertragspartner hier Lösungen finden und ihre Verantwortung wahrnehmen“, forderte die Sozialministerin.

Die Pflege-Problematik ist in Niedersachsen nicht neu. Die schlechte Position in der Pflege sei über viele Jahre gewachsen. Es gebe dringenden Nachholbedarf bei Tariflöhnen, betonte Reimann und vergaß in der Antwort auf die Anfrage auch nicht, die Partei zu erwähnen, die das ändern möchte: „Die SPD-geführte Landesregierung hat einen engagierten und zähen Kraftakt eingeleitet, um die Situation zu verbessern.“ Im neuen Pflegegesetz, das noch in diesem Jahr vorlegt werden soll, werde man die Investitionsförderung an die Zahlung von Tariflöhnen knüpfen,
kündigte Reimann erneut an.

Die Selbstverwaltung funktioniert nicht. Hier ist das Land als Aufsichtsbehörde gefordert. Die Sicherstellung der Pflege steht am Abgrund.

Im aktuellen Streit zwischen Anbietern und Kassen ist ein kurzfristiges Eingreifen allerdings nicht möglich. Immer wieder fragte die FDP-Abgeordnete Sylvia Bruns nach, wie denn das Sozialministerium seine Aufsichtspflicht beim Streit zwischen den Anbietern der freien Wohlfahrtspflege und den Pflegekassen nutzen könne. „Für einen rechtsaufsichtlichen Eingriff müsste die Versorgungssicherheit akut gefährdet sein. Das ist derzeit aber nicht der Fall“, erklärte Reimann.

Erst im Fall einer akuten Gefährdung der Versorgungssicherheit könnten zum Beispiel Zwangsgelder verhängt werden. Man sei allerdings in Gesprächen und habe sich als Landesregierung sehr klar für die Beschäftigten und Pflegebedürftigen positioniert, hob Reimann hervor. „Nehmen sie das als Hinweis, dass wir alle Möglichkeiten ausschöpfen werden.“ Der CDU-Politiker Volker Meyer nannte es bedauerlich, dass sich Organe der Selbstverwaltung seit Jahren immer wieder zerstritten, obwohl Kassen, Anbieter und Politik doch das gleiche gemeinsame Ziel hätten: eine hochwertige Pflege.

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So einfach wollte die Sozialpolitikerin der Grünen-Fraktion, Meta Janssen-Kucz, Landesregierung und Große Koalition dann doch aber nicht davonkommen lassen. „Die Aufgabe einer Landesregierung ist es, Versorgungssicherheit zu gewährleisten und nicht wie das Kaninchen vor der Schlange zu sitzen – in diesem Fall vor dem Schiedsgericht“, sagte Janssen-Kucz. Wohlfahrtsverbände würden in den Ruin getrieben. Betroffen sei vor allem der ländliche Raum, wo es den größten Zuwachs bei ambulanten Pflegediensten gebe.

Janssen-Kucz stellte fest: „Die Selbstverwaltung funktioniert nicht. Hier ist das Land als Aufsichtsbehörde gefordert. Die Sicherstellung der Pflege steht am Abgrund.“ Für die FDP-Politikerin Sylvia Bruns ist klar, dass sich bei der Finanzierung der ambulanten Pflege etwas ändern muss. „Die Kassen könnten mit einem Handstreich die Vergütung der Fahrtkosten erhöhen. Eine Verdopplung wäre angemessen“, so Bruns. Auch die Löhne müssten von den Kassen refinanziert werden. Sie appellierte an freie Wohlfahrt und private Anbieter, die Interessen zu bündeln und gemeinsam nach außen aufzutreten, um eine stärkere Verhandlungsposition zu erlangen.


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Für eine stärkere Position der Pflege soll in Zukunft eigentlich die neue Pflegekammer sorgen. Das Thema wurde am Donnerstag allerdings von den meisten sicherheitshalber umschifft. Allein Janssen-Kucz sagte, das Sozialministerium könne sich ja von den Experten der Kammer unterstützen lassen. Aber große Teile des Landtags und der Landesregierung überhören die angebliche „starke Stimme der Pflege“ angesichts der Gemengelage in diesen Tagen lieber geflissentlich.