Ganz zum Schluss ihrer Rede hat Monika Grütters, die Kulturstaatsministerin im Kanzleramt, noch eine kleine Anekdote für die Zuhörer: Woran kann man erkennen, ob es sich um einen Protestanten oder einen Katholiken handelt? Antwort: An der Art, wie der Spargel verzehrt wird. Die Katholiken, sagt Grütters, essen den besonders leckeren Kopf zuerst und dann den Rest. Bei den Protestanten ist es umgekehrt. Die einen streben direkt nach Lebensfreude, die anderen stellten immer die Anstrengung von den Genuss.

Was würde Luther sagen? Am besten führt man dazu direkt mit ihm ein Interview – Foto: isc

Daran sieht man eben die Unterschiede, und auch das ist eine Folge des Wirkens von Martin Luther, dessen Thesenverkündung in diesem Jahr ein halbes Jahrtausend zurückliegt – und ohne den es wohl nie so drastisch den Gegensatz der beiden Konfessionen gegeben hätte. Dieser runde Geburtstag der Reformation war am gestrigen Mittwochabend Anlass genug für die evangelisch-lutherische Landeskirche Hannover, eine große Frage in den Mittelpunkt des Sommerempfangs zu stellen: „Was hätte uns Luther heute zu sagen?“

Die Antwort liegt auch in der Symbolik. Die noch recht neue Landessuperintendentin Petra Bahr, die für ihr klares und durchaus streitbares Auftreten bekannt ist, hat dazu in die Neustädter Hof- und Stadtkirche in Hannover eingeladen, jenen Ort, wo der große Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz die letzte Ruhestätte hat, ein Mann des großen Geistes und der Versöhnung. Außerdem treten als Rednerinnen drei Frauen auf – zunächst Bahr, dann die Direktorin des Landesmuseums, Katja Lembke, und schließlich die Gastrednerin Monika Grütters, die noch dazu römisch-katholisch ist und in der Welt der Kunst und Kultur zuhause ist. Eine weibliche Prägung, der Hauptvortrag von einer Katholikin, die keine Pastorin ist – was Luther dazu wohl gesagt hätte? „Das ist ein ökumenischen Zeichen, ganz bewusst“, meint Bahr. Aber hätte Luther ein solches Zeichen gut geheißen? „Er blieb eben immer auch in seiner Zeit verhaftet“, sagt Grütters in ihrem Vortrag. Luther war Wegbereiter für vieles, was die demokratische Gesellschaft und den Dialog der Religionen heute ausmacht. Dass er aber selbst ein toleranter, nach Verständigung strebender Prediger gewesen wäre, lässt sich wohl nicht sagen.

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So ist es nicht ganz einfach, Luther als Vorbild zu preisen. Auch Grütters merkt man das an. Da sind zunächst die großen Leistungen. Mit der Bibelübersetzung in einfache, verständliche Worte ebnete er den Weg zu einer allgemeinen Schriftsprache. Ein „störrischer, streitbarer Charakter“ sei dieser Luther gewesen, jemand, der wie kein zweiter für „Gewissensfreiheit, Urteilskraft und Willensstärke“ stehe. Das sei beispielgebend für eine Gesellschaft, die „zu gefährlicher Lethargie, intellektueller Trägheit und politischer Bequemlichkeit“ neige. Aber dann sei da eben noch der Luther, der mit seinen Hetzschriften gegen Andersdenkende, auch gegen Juden, zur Spaltung der Gesellschaft beigetragen habe. Vielleicht sei es ja ganz gut, dass Luther nicht nur gute Seiten hatte – so könne er auch nicht so leicht vereinnahmt werden. Aber Grütters geht noch weiter: So sehr der klare Standpunkt zu Luther gehört habe, so sehr gilt das auch für den Zweifel und das Infragestellen von selbsternannten Autoritäten. „Luther irritiert, provoziert und fordert heraus – er ist damit ungewollt ein Wegbereiter für die mündige Gesellschaft.“

Lila Luther an der Marktkirche: Zum Fest zum Reformationsjubiläum wurde es in Hannover bunt – Foto: KW

Dies ist für Grütters die wichtigste aktuelle Luther-Botschaft: „Er lehrt uns das Misstrauen gegenüber denen, die glauben, die Wahrheit gefunden zu haben. Er lehrt uns, den Zweifel zu kultivieren.“ Mit Luther haben die Protestanten eine Stimme bekommen, und auch wenn es später blutige Kriege zwischen ihnen und den Katholiken gab, so gilt doch auch, dass mit Luthers Wirken religiöse Vielfalt entstand – und die Menschen lernen mussten, damit umzugehen. Das Nebeneinander vieler Religionen könne inspirierend und bereichernd sein, aber eben auch beängstigend und verstörend. Zur „zivilen Errungenschaft“ gehöre es, „das Gemeinsame über das Trennende stellen zu können“. Nicht, dass Luther dies gepredigt oder vorgelebt habe – aber sein Wirken habe gleichwohl dort hingeführt. Grütters erzählt die Geschichte der muslimischen Frauenrechtlerin Seyran Ates, die in Berlin-Moabit eine liberale Moschee gegründet hat, in der auch Frauen ohne Kopftuch predigen und Homosexuelle ebenso willkommen sind wie Heterosexuelle. Seyran Ates sei unbequem und wende sich gegen Dogmatismus, wie vor 500 Jahren Martin Luther. „Sie verdient unsere volle Unterstützung.“

Tritt fest auf, mach’s Maul auf, hör‘ bald auf  –  Martin Luther

Was Luther dazu heute sagen würde, darüber will Grütters lieber nicht spekulieren. Immerhin gibt es zwei Martin Luther – den einen, der durch sein Wirken Schranken überwunden, den freien Geist gefördert und die Pluralität in der Gesellschaft möglich gemacht hat, und den anderen, dessen deftige Ausdrucksweise heute womöglich viele abstoßen und einen Meinungsaustausch verhindern würde. Feingeistige Dialoge mögen ihm ein Graus gewesen sein, dazu liefert die Hauptrednerin noch ein Ratschlag an alle Vortragenden, das dem großen Reformator zugeschrieben wird: „Tritt fest auf, mach’s Maul auf, hör‘ bald auf.“ (kw)