Entscheiden sich die Eltern von Kindern mit Behinderung in Niedersachsen für die inklusive Schule aus freiem Willen, oder weil sie dazu gezwungen sind? Dazu herrschte bei Regierung und Opposition gestern Uneinigkeit. Hintergrund sind die aktuellen Zahlen zur Entwicklung der Inklusion. Im vergangenen Jahr besuchten demnach 61,4 Prozent der Schüler mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf eine allgemeinbildende Schule zwischen der ersten und achten Klasse. In den vergangenen Jahren gab es eine deutliche Steigerung. Vor vier Jahren lag die Inklusionsquote noch bei 45 Prozent. „Das zeigt sehr deutlich, dass sich die Eltern ganz klar für die inklusive Schule entscheiden“, meint Kultusministerin Frauke Heiligenstadt.

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Die CDU im Landtag sieht das anders. SPD und Grüne hätten schließlich selbst für die vollständige Abschaffung der Förderschule Lernen gesorgt. „Sich für eine steigende Inklusionsquote zu loben, nachdem man den Eltern die Wahlmöglichkeit genommen hat, ist eine Unverschämtheit“, meinte der CDU-Bildungspolitiker Kai Seefried. Die Zahl der Förderschule Lernen geht allerdings bereits seit den 70er-Jahren zurück. Im Jahr 1975 gab es in Niedersachsen noch 210 dieser Förderschulen. Die Zahl sank beständig und lag im Jahr 2015 nur noch bei 145 Schulen.

Seefried sieht schwerwiegende Probleme bei der Umsetzung der Inklusion. „In vielen Schulen ist ein vernünftiger gemeinsamer Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderung kaum möglich. Es fehlen Lehrer sowie weiteres pädagogisches Personal.“ Auch der bildungspolitische Sprecher der FDP-Landtagsfraktion, Björn Försterling, nennt die aktuelle Situation ein Debakel. „Die Lehrer sind jetzt schon weit über ihre Grenzen belastet, den Schülern wird die Situation schon lange nicht mehr gerecht, die Eltern laufen reihenweise Sturm. Hier muss ganz dringend etwas passieren“, sagte Försterling.

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Heiligenstadt sieht das naturgemäß anders und präsentiert Zahlen und Tabellen als Beleg. Über 80.000 Stunden seien im laufenden Schuljahr für den Zusatzbedarf Inklusion zur Verfügung gestellt worden, die Investitionen seien von knapp 180 auf 330 Millionen Euro gestiegen und seit Einführung der Inklusion hätten sich in den vergangenen Jahren 30.000 Lehrer entsprechend weitergebildet. Die Zukunft sieht Heiligenstadt in multiprofessionellen Teams, für die weitere pädagogische Mitarbeiter benötigt würden. Derzeit werde geprüft, wie weiteres pädagogisches Personal in den Schulen eingesetzt werden könne. Werden es 1000 Sonderpädagogen, wie von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) kürzlich gefordert? Auf konkrete Zahlen will sich die Ministerin nicht einlassen. Man könne schließlich nicht jeden Wunsch der GEW eins zu eins erfüllen.

Um den Bedarf an weiteren Sonderpädagogen zu decken, wurden mit den Hochschulen in Oldenburg und Hannover Zielvereinbarungen abgeschlossen. Die Studienplatzkapazitäten sollen bis zum Jahr 2018 auf insgesamt 460 Bachelor- und 400 Masterstudienplätze steigen. Heiligenstadt zufolge werden auch neue Professuren geplant. Es werde dann in Niedersachsen 27 Sonderpädagogikprofessuren geben. „Sonderpädagogen werden dringend benötigt. Ich kann jeden Lehramtsstudenten nur ermutigen, diese Fachrichtung zu wählen und ein entsprechendes Studium zu beginnen“, sagte die Kultusministerin.

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Nicht ganz zufrieden ist Heiligenstadt mit der Verteilung auf die einzelnen Schulformen. Die Hälfte der betroffenen Schüler geht auf eine Grundschule. Häufig werden auch Oberschulen (19 Prozent) und Gesamtschulen (16,6 Prozent) angewählt. Gymnasien und Realschulen spielen dagegen mit 2,6 und 2,5 Prozent kaum eine Rolle. „Eine gleichmäßigere Verteilung wäre schön. Das scheint aber von den Eltern nicht so angewählt zu werden, sagt Heiligenstadt. Für Realschulen und Gymnasien wünscht sie sich dennoch eine höhere Quote. „Das ist absolut ausbaufähig, schließlich gibt es an 250 Gymnasien in Niedersachsen nur 590 Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf – das sind rund zwei pro Gymnasium.“ Angesichts dieser Zahlen wundere man sich über Verlautbarungen  einiger Vertreter der gymnasialen Bildung, aus denen man eher den Eindruck habe, es gebe tausende Schüler mit Unterstützungsbedarf an den Gymnasien, stichelt die Kultusministerin und stellt fest: „Das ist anhand der Zahlen eindeutig nicht der Fall. Man muss die Diskussion etwas entdramatisieren!“ Die ungleiche Verteilung der Schüler bemängelt derweil auch die Lehrer-Gewerkschaft GEW. Das Schulgesetz sehe schließlich vor, dass alle Schulen inklusive Schulen sind. „Diese ungleiche Entwicklung muss korrigiert werden“, fordert der GEW-Landesvorsitzende Eberhard Brandt.

Abseits aller Zahlen ist Inklusion für Heiligenstadt eine Frage der Haltung. „Inklusion ist unser gesellschaftliches Ziel. Wir wollen eine Gesellschaft des Miteinanders.“ Deshalb könne man jetzt auch keine Pause machen, auch wenn es ein schwieriger Prozess sei. An die Kritiker gerichtet sagte Heiligenstadt: „Alle diejenigen, die jetzt wieder andere Schulformen einführen wollen, befinden sich auf eine Rückwärtsbewegung.“ (MB. )