Die neue niedersächsische Justizministerin Barbara Havliza (CDU) hat in einem langen Interview mit Annette Ramelsberger von der Süddeutschen Zeitung über ihre Zeit als Richterin gesprochen – und dabei sehr tiefe Einblicke in diesen Beruf ermöglicht. Havliza, Jahrgang 1958, hat 30 Jahre lang als Richterin gearbeitet. Zunächst war sie Jugendrichterin, die letzten zehn Jahre dann hat sie am Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf gewirkt und führte Prozesse gegen Rechtsextremisten, Linksextremisten oder gewalttätige Islamisten. Havliza ist auch persönlich bedroht worden – ebenso wie ihr Umfeld. Sie sagt: „Das waren Aufrufe zum Abschlachten gegen mich, meine Senatskollegen, aber auch gegen die Wachtmeister. Der Aufruf wurde mit Fotos veröffentlicht. Aber ich habe immer den Eindruck gehabt: Man passt schon gut auf uns auf.“

Vor Gericht sind Emotionen verboten

Havliza geht in dem Gespräch auch darauf ein, dass sie im Gerichtssaal wiederholt Videos anschauen musste, in denen Menschen von IS-Tätern die Köpfe abgeschnitten werden, in denen IS-Kämpfer mit abgeschnittenen Köpfen posieren oder in denen Menschen gefoltert werden. „Das stecken Sie nicht weg. Ohne auffangendes Umfeld geht das nicht“, meint die frühere Richterin auf die Frage, wie sie damit umgegangen ist. Sie fügt hinzu, dass man aber auch die Familie nicht zu sehr mit solchen Erfahrungen belasten dürfe. Man könne den meisten Menschen gar nicht zumuten, was Folter im Detail bedeute. Mit ihrer Tochter, einer Ärztin, habe sie reden können darüber, was es bedeute, wenn einem Menschen der Kopf nicht nur abgehackt, sondern abgeschnitten wird. Im Kreise der Richterkollegen habe man auch mal ungeschminkt sagen können, wie widerlich und schrecklich man so etwas finde.

Vor Gericht allerdings, als Richterin, habe sie Emotionen nie zeigen dürfen, da sonst ein Befangenheitsantrag erfolgreich hätte sein können. Später im Richterzimmer, würden Gefühle deutlich: „Es gibt auch Situationen, wo einer sagt: ,Kann ich jetzt mal kurz ganz laut schreien?‘ Weil man ja immer hinter der Fassade das Erschrecken, aber auch Ärger verbergen muss. Ich habe im Gerichtssaal in solchen Situationen immer innerlich ganz langsam bis drei gezählt. Wenn ich immer gesagt hätte, was mir gerade in den Sinn gekommen ist, dann wäre das oft schiefgegangen.“

Der Angeklagte muss aufstehen

Die frühere Richterin berichtet, dass sie sich immer bemüht habe, die Würde der Angeklagten zu wahren. Menschen, die vor Gericht stehen, merkten rasch, ob man sie vorführen wolle oder sie ernst nehme. Sie habe den Angeklagten stets „einen gewissen Vertrauensvorschuss“ entgegengebracht – und damit oft auch erreicht, dass sie zu reden bereit sind, auch wenn sie das zunächst eigentlich nicht wollten. Havliza betont aber auch, dass sie stets Respekt vor der Rechtsordnung verlangt habe – also etwa auch das Einhalten der Regel, dass der Angeklagte zu Beginn des Prozesses sich erhebt, um die Autorität des Gerichts anzuerkennen. Wenn sich ein Angeklagter weigern wollte, habe sie ihn als letzte Konsequenz erst zu Beginn der Verhandlung ins Gericht führen lassen: „Dann standen sie automatisch und ihre Provokation lief ins Leere.“

Im Zweifel freisprechen statt verurteilen

Nach den Worten der früheren Richterin war es für sie „bitter“, wenn sie einen Angeklagten habe freisprechen müssen, weil sie Beweise fehlten oder Zeugenaussagen nicht klar genug waren – obwohl sie von der Schuld überzeugt gewesen war. In den neunziger Jahren hatte sie zwei Männer wegen sexuellen Missbrauchs verurteilt, obwohl sich später erst herausstellte, dass die Zeugin an der damals noch wenig bekannten Borderline-Störung litt. Bei einem Verurteilten sei damit die Existenz zerstört worden, und der Freispruch im späteren Wiederaufnahme-Verfahren habe daran auch wenig geändert. „Das zeigt, wie fehlbar man ist. Deswegen stehe ich zu meiner Überzeugung: Lieber einen zu Unrecht freisprechen als einen zu Unrecht verurteilen“, sagt Havliza.

Die neue Ministerin gibt in dem Interview mit Annette Ramelsberger auch eine Antwort auf die Frage, warum sie in die Politik gewechselt ist: „Wenn Sie mit fast sechzig die Chance bekommen, all das anzugehen, wovon Sie immer gedacht haben: ,Wenn ich etwas zu sagen hätte, würde ich das ändern‘ – dann müssen Sie das tun. Dass ich nun Justizministerin in Niedersachsen bin, das ist für mein Berufsleben wie die Kirsche auf der Sahnetorte.“