Zu guter Bildung gehört mehr als nur Lesen, Schreiben und Rechnen. Das meinen zumindest Oberlandeskirchenrätin Kerstin Gäfgen-Track von der evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannover und Jörg-Dieter Wächter vom katholischen Bistum Hildesheim. Die beiden kirchlichen Bildungsexperten äußern sich im Rundblick-Interview kritisch zu einem speziellen Aspekt der Corona-Strategie des Kultusministeriums.

Rundblick: Kürzlich hat Kultusminister Grant Hendrik Tonne seine Pläne vorgestellt, wie es in den Schulen nun weitergehen kann. Was halten Sie von seinem Fahrplan?

Wächter: Wir waren zunächst überrascht von der Zehn-Punkte-Agenda des Kultusministers, in der ohne Abstimmung mit uns möglicher Weise eine Restriktion für den Religionsunterricht vorgenommen wurde. Grundsätzlich finden wir den Plan nachvollziehbar und begrüßenswert. Aber ein Passus ist in unseren Augen problematisch, nämlich dass die Hauptfächer verstärkt werden sollen zulasten von Musik, Sport, Kunst und Religion. Das entspricht nicht unserem Verständnis von Bildung. Das ist eine Verengung auf Schönwetterbildung.

Rundblick: Was ist denn Ihr Verständnis von Bildung? Was muss ein Schüler heutzutage lernen?

Gäfgen-Track: Jedenfalls mehr als nur Rechnen, Schreiben und Lesen. Er muss auch soziale Kompetenzen entwickeln, was bei den reduzierten Kontakten deutlich auf der Strecke geblieben ist. Ein Kinder und Jugendliche müssen außerdem ästhetischen Ausdruck lernen, sie müssen motorische Kompetenzen entwickeln und brauchen auch religiöse Bildung, um mit der multiethnischen Kultur angemessen begegnen zu können. Vor allem müssen sie aber auch Kraft entwickeln, um mit der Krise umgehen zu können. Stattdessen gibt es nun einen noch höheren Leistungsdruck, indem gesagt wird, dass die anderen Fähigkeiten alle nicht so wichtig sind. Über unsere Schulseelsorge haben wir mitbekommen, dass sich die Ängste der Kinder und Jugendlichen aber verstärkt haben – auch die Angst davor, die Schule nicht zu schaffen. Eine Verengung auf die Kernfächer verstärkt diese Angst nun noch zusätzlich.

Rundblick: Dennoch hat sich im zurückliegenden Jahr ein großes Defizit aufgebaut. Die Schulen waren lange geschlossen, über viele Monate gab es nur Distanzlernen und Unterricht im Wechselmodell. Kann das überhaupt aufgeholt werden?

Wächter: Ob es diese Einbußen tatsächlich flächendeckend und bei allen Fächern gibt, ist eine empirische Frage, die man untersuchen muss. Unsere Erfahrung ist: Je älter die Schüler sind, desto weniger Leistungseinbußen haben sie. Das liegt auch daran, dass die Projektwochen und Exkursionen weggefallen sind und die Zeit in der Schule viel intensiver und effektiver genutzt wurde. Die Älteren sind also viel weniger stark betroffen. Wo wir Defizite festgestellt haben, das sind die fünften Klassen. Wir dürfen aber die umfassende Bildung nicht verkürzen auf vermeintliche Kernkompetenzen. Darüber zu reden, wie es mir geht, oder die ästhetische Expressivität: das sind essenziell wichtige Teile von Bildung.

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Rundblick: Der Plan des Kultusministers sieht diese Stärkung der Kernfächer eher für die Grundschulen vor. Nun könnte man sagen, dass dort generell der Fokus ein anderer ist: Wer in der Grundschule nicht lernt, wie man richtig liest, wird auch später immer Probleme haben.

Gäfgen-Track: So wie wir die Ankündigung des Kultusministers verstanden haben, werden die Nebenfächer zur Verfügungsmasse erklärt. Dabei waren es ja gerade die Kernfächer, die im digitalen Unterricht noch vorgekommen sind. Lesen, Schreiben und Rechnen lassen sich über Arbeitsblätter viel einfacher vermitteln als die anderen Dinge. Das Problem ist aber ein anderes: Es geht nicht um eine verlorene Generation, sondern um einzelne Gruppen, die wir zu verlieren drohen. Wir merken in der Corona-Pandemie, dass es viele Mädchen und Jungen gab und gegenwärtig immer noch gibt, die die Schule gar nicht mehr erreicht hat, während andere auch zuhause von den Eltern unterstützt und gefördert werden konnten. Deshalb sagen wir: Etwas mehr Deutsch für alle ist nicht der richtige Weg. Es braucht viel mehr individuelle Förderung für die Benachteiligten – darin muss dringend mehr investiert werden. Wir geben Milliarden für Wirtschaftshilfen aus aber kämpfen im Bildungsbereich um jede 450-Euro-Kraft.

Wächter: Die Systemrelevanz von Schule ist langfristig viel größer. Ich will die verschiedenen Bereiche nicht gegeneinander ausspielen, aber wenn man von einer Bildungsrendite sprechen will, könnte uns die aktuelle Situation in zehn, fünfzehn oder zwanzig Jahren auf die Füße fallen. Das zu verhindern, dazu kann beispielsweise auch das Modell der Lernräume beitragen. Wir haben die Gemeinderäume geöffnet, um dezentrale, relativ große Räume als außerschulische Lernorte bereitzustellen. Das könnte man nun weiter ausbauen.

Man muss jedes einzelne Kind in den Blick nehmen und in die Schule mehr Durchmischung bringen.

Rundblick: Wie muss die schulische Bildung sich wandeln, damit wir nicht noch jahrelang das Corona-Defizit vor uns herschieben oder die Spaltung zwischen den Schülergruppen weiter zunimmt?

Gäfgen-Track: Man muss jedes einzelne Kind in den Blick nehmen und in die Schule mehr Durchmischung bringen. Das Vertrauen in die Annahme, dass Starke und Schwache sich gegenseitig fördern, ist nicht sehr groß. Das ist aber falsch: In heterogenen Klassen fördern sich die Schüler wechselseitig. Wenn wir als Gesellschaft weiter auf Segregation setzen, brauchen wir uns am Ende nicht zu wundern, wenn da ganze Gruppen abgehängt werden. Das ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, das nicht individuell und auch nicht schulisch allein gelöst werden kann.

Wächter: Lässt man Tandems aus stärkeren und schwächeren Schülern gezielt miteinander arbeiten, leidet die Leistung nicht. Im Gegenteil: Das Leistungsniveau ist höher, weil die Motivation auch höher ist. Der soziale Faktor beim Lernen sollte nicht außer Acht gelassen werden.

Gäfgen-Track: Auch hier zeigt sich ein Problem beim Verengen auf die Kernfächer. So nimmt man den schwächeren Kindern und Jugendlichen nämlich auch die Möglichkeit, einmal Erfolgserlebnisse zu haben. Man kann die doppelte Anzahl Stunden Deutsch haben und es trotzdem nicht verstehen – aber es wird einem der Ausdruck von Erfolg genommen, weil man nicht schnell über den Sportplatz laufen kann und dort zu den Besten gehört.