Nach außen hin wirkt alles recht harmonisch. Die Machtverhältnisse in der niedersächsischen AfD scheinen nach dem jüngsten Landesparteitag gefestigt, der ewige Machtkampf zwischen den „Bürgerlichen“, die jetzt das Sagen haben, und den „Patrioten“, die bis Mai am Ruder waren, ist offiziell beigelegt. Als am Sonnabend und Sonntag die neue Landesliste der AfD für die Landtagswahl am 9. Oktober gewählt wurde, zeichnete sich bei den Ergebnissen auch eine klare Dominanz der neuen Führung ab. Für den neuen Spitzenkandidaten Stefan Marzischewski-Drewes, einen Arzt und aktiven Kommunalpolitiker aus Gifhorn, gab es sogar ungeteilte Zustimmung. Der 56-Jährige genießt als einer der wenigen AfD-Funktionäre flügelübergreifend Sympathien. Er bekam 96 Ja-Stimmen, 12 Nein-Stimmen und drei Enthaltungen.

Stefan Marzischewski-Drewes | Foto: Wallbaum

Doch der Eindruck der Geschlossenheit täuscht. Trotz der relativen Klarheit bei der Listenaufstellung kocht es im Hintergrund. Der Landtagsabgeordnete Christopher Emden aus dem Kreisverband Osterholz-Verden, Mitglied im Landesschiedsgericht, schickte dem Vorstand noch am Vorabend der Aufstellungsversammlung einen mahnenden Brief. Überraschend war das für viele nicht, denn Emden war im Vorfeld auf keiner der vorbereitenden Kandidatenlisten aussichtsreich platziert worden.


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Er mied auch die Aufstellungsversammlung am Wochenende. Nach Emdens Ansicht ist das Vorgehen des Landesvorstandes bei der Vorbereitung der Tagung dilettantisch, wichtige Verfahrensgrundsätze seien außer Acht gelassen worden, die Grundregeln der freien Meinungsbildung seien nicht beachtet worden. Gleich nach der Versammlung, in dieser Woche, will sich das Landesschiedsgericht mit mehreren entsprechenden Eingaben beschäftigen. Das ist keine Nebensächlichkeit, denn gerade die Aufstellung von Kandidatenlisten für die Bundestags- und Landtagswahl ist ein höchst sensibler, mit vielen Fallstricken und juristischen Feinheiten behafteter Vorgang.

„Natürlich wird diese Liste angefochten, das ist bei uns so. Aber die Rechtsexperten haben uns erklärt, dass alles absolut rechtssicher ist.“

Die AfD muss die Liste bei der Landeswahlleiterin Ulrike Sachs einreichen – und dort wird sie auf Herz und Nieren überprüft. Schon einmal, vor der Bundestagswahl 2017, riskierte die niedersächsische AfD die Nicht-Teilnahme an der Wahl, da es erhebliche Verfahrensfehler gab, die beschlossene Liste war seinerzeit auch viel zu spät eingereicht worden. Sollte es nun diesmal wieder so sein? Der neue Landesvorsitzende Frank Rinck aus Uelzen bemühte sich, gleich zu Beginn der Aufstellungsversammlung, alle Zweifel auszuräumen. „Natürlich wird diese Liste angefochten, das ist bei uns so. Aber die Rechtsexperten haben uns erklärt, dass alles absolut rechtssicher ist.“ Sonst, fügte Rinck hinzu, „würden wir uns heute hier sicher gar nicht treffen.“

Wie belastbar ist das Verfahren?

Aber wie belastbar ist das Vorgehen der AfD-Landesspitze? Die Landespartei sieht bisher kein Delegiertensystem vor, aber die vom Innenministerium verfügte Corona-Aufstellungsverordnung erlaubt es allen Parteien, von ihren eigenen Satzungsregeln abzuweichen und Kandidaten auch im kleineren Rahmen zu bestimmen – per Brief- oder Delegiertenwahl beispielsweise. Der Landesvorstand hat dazu die Macht.

Soweit, so gut. Nun sagt aber Emden, die AfD hätte nach seiner Interpretation der Corona-Verordnung die Pflicht gehabt, auf ihrem Landesparteitag Ende Mai die eigene Parteisatzung entsprechend anzupassen. Das sei versäumt worden. Emden meint, man hätte auch noch einen Sonder-Landesparteitag zur Satzungsänderung zwischenschieben müssen – und die Alternative, eine Mitglieder-Vollversammlung abzuhalten, sei ja auch möglich gewesen, eine Halle in Hannover stehe sogar zur Verfügung.

Der nächste Hinweis betrifft den Delegiertenschlüssel (ein Delegierter für je 20 Mitglieder), der von manchen als zu hoch angesehen wird. Dann habe es für die Kreisverbände keinen klar kommunizierten Stichtag für die Festlegung der Mitgliederzahl gegeben, viele Vorstände hätten folglich gar nicht gewusst, wie viele Delegierte sie bestimmen können. Im Kreisverband Göttingen, hieß es, hätten organisatorische Probleme dazu geführt, dass gar keine Delegierten mehr bestimmt werden konnten – da die Vorbereitungen recht chaotisch verlaufen seien und totale Verwirrung geherrscht habe.

Muss die Aufstellung wiederholt werden, wird es knapp

Das alles kann sich noch zum ernsten Problem auswachsen. Die AfD muss ihre Liste umgehend bei der Landeswahlleiterin einreichen und dort überprüfen lassen. In zwei Wochen aber beginnen bereits die Schulferien, und der späteste Termin der Einrichtung der Liste bei der Landeswahlleiterin ist der 1. August. Wenn die erste Überprüfung dazu führt, dass die AfD ihre Aufstellungsversammlung wiederholen muss, dann wird die Zeit knapp und man rasselt geradewegs in die Sommerferien.

Allerdings wird aus dem Landesvorstand selbst Entwarnung gegeben: Emden täusche sich, wenn er die Corona-Verordnung des Innenministeriums als Basis für das Vorgehen des Landesvorstandes unterstelle – vielmehr beziehe sich die AfD nicht darauf, sondern auf eine Generalklausel in der eigenen Satzung, wonach der Landesparteitag in allen wichtigen Fragen Sonderregeln festlegen könne. Das sei beim Landesparteitag Ende Mai geschehen, als per Beschluss die Kreisverbände zur Aufstellung von Delegierten für die Nominierung der Landesliste aufgefordert worden seien. Rechtlich sei also alles in Ordnung.

Hampel fordert „neuen Aufbruch“

In Dötingen, einem kleinen Ort im Oldenburger Land, das in der NS-Zeit eine gewisse Berühmtheit als „Reichsmusterdorf“ hatte, wird dieses Thema nicht weiter erörtert. Die AfD-Delegierten konzentrieren sich ganz auf die Personalauswahl. Der neue Spitzenkandidat, Stefan Marzischewski-Drewes, hält ein flammendes Plädoyer für die kommunale Selbstverwaltung. Auf Rang zwei treten dann zwei Schwergewichte gegeneinander an, der Vize-Landesvorsitzende Ansgar Schledde, Bauunternehmer aus Schüttorf (Grafschaft Bentheim) und einflussreiche Größe in der AfD, gegen den früheren Landesvorsitzenden und einstigen Bundestagsabgeordneten Armin-Paul Hampel (Uelzen).

Armin-Paul Hampel, einer der früheren Vorsitzenden der Partei | Foto: Wallbaum

Hampel nutzt die Vorstellung, der AfD eine enorme Schwächung zu attestieren, bundesweit wie auch in Niedersachsen. „Wir sind inzwischen das fünfte Rad am Wagen“, stellt er fest und fordert einen „neuen Aufbruch“. Die Entscheidung fällt dann klar zugunsten von Schledde aus, aber Hampels Lager, das der „Patrioten“, nutzt die Aufstellungsversammlung als einen Akt der Selbstbehauptung: Er, der frühere Landesvorsitzende Jens Kestner und andere aus der Gruppe, etwa Andreas Iloff aus Diepholz, kandidieren trotz der sicheren Erwartung ihrer Niederlage – weil sie zeigen wollen, dass sie nicht aufgegeben haben. Eine süffisante Bemerkung dazu kann sich Hampel dann auch nicht verkneifen: Man habe ja eine gemeinsame, flügel-übergreifende Landesliste erwartet. Aber der Landesvorstand habe sich dann nicht in diese Richtung bewegt.

Am Ende scheitern alle Bewerber des Hampel-Kestner-Lagers bei ihren Kandidaturen für die ersten neun Listenplätze. Nach Marzischewski-Drewes und Schledde setzen sich auf den weiteren Rängen Jan-Christoph Brockmann (Celle), Klaus Wichmann (Verden), Peer Lilienthal (Barsinghausen), Delia Klages (Hameln-Pyrmont), Stephan Bothe (Lüneburg), Alfred Dannenberg (Heidekreis) und Harm Rykena (Oldenburg) durch. Die bisherigen Landtagsabgeordneten Stefan Wirtz (Braunschweig), Stefan Henze (Hannover) scheitern mit ihren Bemühungen, unter den ersten zehn Plätzen aufgestellt zu werden – und Christopher Emden, der aus dem Hintergrund agierende Jurist, versucht es erst gar nicht.