In diesem Jahr stehen viele Wahlen an – und vermutlich werden in einigen Bundesländern Landtage gebildet, in denen recht viele Gruppierungen sitzen. Wenn diese Schwierigkeiten haben, für eine tragfähige Regierung sichere Koalitionen zu bilden, könnte eine gewählte Regierung ja versuchen, mit wechselnden Mehrheiten im Parlament die nötigen Gesetze und den Haushaltsplan zu verabschieden. Ist das ein zukunftsweisender Weg? Die Rundblick-Redaktion hat dazu unterschiedliche Auffassungen.

PRO: Der Wunsch nach Stabilität ist verständlich, aber unzeitgemäß. Mit wechselnden parlamentarischen Mehrheiten würde die Demokratie dynamischer und offener, die politische Debatte würde versachlicht und zugleich ehrlicher, meint Niklas Kleinwächter.

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Das politische System der Bundesrepublik Deutschland liebt vor allem eines: Stabilität. Das ist vor dem Hintergrund der Weimarer Verhältnisse, von denen die Väter und Mütter des Grundgesetzes geprägt worden sind, mehr als verständlich. Doch inzwischen kann einen der Verdacht beschleichen, dass genau dieses System der Stabilität an seine Grenzen gekommen ist, auch weil es nicht mehr zur Komplexität der aktuellen Zeit passt. Die klassischen Koalitionsregierungen werden als Opfer der neuen politischen Verhältnisse wahrgenommen, weil die üblichen Zweierbündnisse von Wunschpartnern immer seltener rechnerisch möglich sind. Verstärkt wird das Problem durch Parteien, mit denen anderen auf gar keinen Fall koalieren wollen. Am besten kann man in Thüringen beobachten, zu was das führt. Aber auch anderswo trägt der Zwang zur Koalitionsbildung bei einer zunehmend koalitionsunfreundlichen Parlamentszusammensetzung erstaunliche Blüten.

Vielleicht sind die Koalitionsregierungen aber nicht nur Leidtragende eines politisch-gesellschaftlichen Wandels, sondern Teil des Problems. Wechselnde Mehrheiten in Parlamenten wären demnach nicht nur die Folge, sondern vielleicht auch ein Heilmittel für die darbende Demokratie. Was in den kommunalen Volksvertretungen und im EU-Parlament gut gelingt, kann doch auch im Landesparlament oder dem Bundestag funktionieren. Drei Gründe sprechen dafür, das politische System für wechselnde Mehrheiten zu öffnen:

Dynamik: Als die Sozialdemokraten vor ein paar Monaten das rot-grüne Ratsbündnis in Hannover aufgekündigt und das Jonglieren mit wechselnden Mehrheiten angekündigt haben, passierte in den Tagen danach etwas Bemerkenswertes: Es wurden Gesprächskanäle geöffnet, die viele Jahre, womöglich sogar Jahrzehnte verschlossen waren. Fraktionsmitglieder der vorherigen Ratsmehrheit gingen auf jene Kollegen zu, die bislang außen vor bleiben mussten – trotz inhaltlicher Übereinstimmungen. Und auch der Oberbürgermeister und die Dezernentenriege suchten plötzlich wieder den verstärkten Austausch auch zu jenen Ratsleuten, die anderen Fraktionen als denen von SPD und Grünen angehören. Kommunikation findet statt von rechts nach links und oben nach unten. Das politische Geschäft wurde mit einem Mal belebt wie selten, weil plötzlich vieles möglich wurde, was vorher ausgeschlossen war – aber nur, weil vieles nötig wurde, das man vorher schlichtweg nicht brauchte. Diese veränderte Dynamik wirkt zunächst wie Chaos, es entsteht eine gewisse Instabilität. Nicht zuletzt aber schafft diese Konstellation Offenheit und kreative Räume, die im Ringen um bessere Politik hilfreich sein können.

Sachlichkeit: Das offene Ringen um bessere Antworten auf die Fragen der Zeit wird also dadurch verstärkt, dass die Schranken der Koalitionslogik aufgebrochen werden. Vielleicht führt das sogar im Stadtrat von Hannover dazu, dass die Parteipolitisierung der Stadtverwaltung etwas abnimmt. Es würde dem Wunsch vieler Menschen entsprechen, dass die gewählten Vertreter der Stadt an der Sache orientiert diskutieren und entscheiden und nicht auf etwaige Parteiprogramme schielen und Ideologien anhängen. Ein Ort, an dem diese Sachlichkeit bereits jetzt ausgeprägter ist, ist das EU-Parlament. Das mag natürlich auch an der Ferne zur Parteibasis liegen. Wichtig für die hohe Sachlichkeit und Fachlichkeit, über die Abgeordnete anderer Parlamente gelegentlich überrascht erscheinen, ist mit Sicherheit aber auch der Umstand, dass im EU-Parlament Mehrheiten permanent neu gebildet werden müssen. Dadurch rückt die einzelne Sachfrage viel stärker in den Vordergrund als etwa eine Koalitionsräson. Der politische Kuhhandel wird komplizierter, wenngleich auch nicht ausgeschlossen. Stattdessen müssen sich Aushandlungen vor allem auf ein konkretes Vorhaben konzentrieren, dessen Details größere Bedeutung erlangen. Dadurch wird die Wahrscheinlichkeit für sachlich voneinander völlig losgelöste Deals – wofür es in der Bevölkerung häufig wenig Sympathien gibt – unwahrscheinlich.

Ehrlichkeit: Spricht man dieser Tage mit politisch interessierten Menschen, kann man zwei gegenläufige Analysen der aktuellen politischen Lage bekommen: Während die einen darüber klagen, dass die Parteien einander zu ähnlich sind und sich deutlich stärker voneinander abgrenzen müssen, sind die anderen genervt davon, dass Politiker stets nur nach Parteilogik handeln und fordern sie folglich auf, die Parteibrille endlich einmal abzusetzen. Auch auf den Demonstrationen der jüngsten Vergangenheit konnte man den zuletzt genannten Appell wiederholt vernehmen. Handeln nach Parteilogik wird zunehmend als Unehrlichkeit wahrgenommen. Etwas zu tun oder zu lassen, weil es die Partei verlangt, selbst wenn es einem unredlich erscheint, wird vom Wähler im Ganzen nicht goutiert. Dazu gehört auch das Rollenspiel von Regierungs- und Oppositionsfraktionen. Der ewig wiederholte unkritische Dank an Regierung und Verwaltung, der gebetsmühlenartig von Mitgliedern der Koalitionsfraktionen vorgetragen wird, langweilt die Zuhörer und nervt sie ebenso wie das ständige Poltern der Opposition gegen alles, was die Regierung tut. Dieses Denken hat sich überlebt, die Bürger sind bereit für die Zumutung einer Politik, die ohne derartige Inszenierungen auskommt.