Es hat in jüngster Zeit ganz viele Vorfälle gegeben, die unter dem Begriff „Identitätspolitik“ verbucht werden – und mit diesem Wort wohl eher verniedlicht werden. In Wirklichkeit geht es um Ausgrenzung, Abschottung und Intoleranz. Der anerkannte Afrika-Experte Prof. Helmut Bley sollte vor einigen Wochen in einer Veranstaltung der Landeshauptstadt Hannover auftreten, eine Diskussionsrunde in den „Internationalen Wochen gegen Rassismus“ war geplant.

Von der Landeshauptstadt aus- und der Hannover-SPD eingeladen: Afrika-Experte Prof. Helmut Bley – Screenshot: kw

Alles war gut vorbereitet, Bley hatte sein Konzept schon fertig, als dann überraschend die von Oberbürgermeister Belit Onay (Grüne) geführte Stadtverwaltung den Termin absagte. Man solle das Treffen verschieben auf November, hieß es. Auslöser war offenbar ein intern geäußerter Protest der Anti-Rassismus-Initiative „Idira“. Mit Bley, einem „alten weißen Mann“, könne man nicht über Rassismus reden, hieß es, denn er sei „ungeeignet für dieses Thema“.

Dürfen also weiße Männer prinzipiell nicht über das Leid von Schwarzen reden? Dürfen Männer auch nicht über Gleichberechtigung reden? Darf eine weiße Frau das Gedicht einer schwarzen Frau nicht übersetzen? Darf man Personen der Geschichte ehren, wenn sie im Lauf ihres Lebens Dinge getan haben, die heute als unangemessen gelten?


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Die beiden hannoverschen SPD-Vorsitzenden Adis Ahmetovic und Ulrike Strauch, die sich seit der OB-Wahl Ende 2019 gewissermaßen „in Opposition“ zum Oberbürgermeister befinden, haben Bley jetzt zu einer Diskussionsrunde eingeladen – und das Thema im Netz für alle Interessierten geöffnet. Es gehe um „Identitätspolitik“, hieß es in der Einladung. Bürgermeister Thomas Hermann (SPD), Vorsitzender des Rates, versuchte einleitend auch, die Breite des Themas zu beschreiben. Er wies darauf hin, dass jüngst Asta und Fachschaftsrat der Uni Hannover dafür plädiert hatten, einen Polizisten nicht zu einem Seminar über Polizei und Kriminalität zuzulassen – weil er als Polizist für strukturelle Gewalt der Polizei stehe.

Dass Wolfgang Thierse, der sich gegen eine verordnete Sprache und Tilgung von Namen und Denkmälern wandte, „Stress mit Teilen der Parteispitze“ bekommen habe, erwähnt Hermann auch – um dann solche identitätspolitischen Haltungen als „tödlich für jede freie Debatte“ zu geißeln. Die Gefahr sei, dass „Antirassisten so rassistisch handeln wie die Rassisten selbst“, meint der Bürgermeister und rüffelt die Stadtverwaltung, die „den Dialog hätte bestehen müssen, statt zu kapitulieren“. Man müsse handeln, bevor alles Formen von Inquisition annehme.

Kulturkampf und Cancel Culture

Auch Bley, der ausgeladene Afrika-Experte, meint „wehret den Anfängen“ und spricht von Wissenschaftlerkollegen, die eingeschüchtert seien wegen der von lautstarken Gruppen geforderten Sprechverbote und Angst hätten, die Uni-Leitungen würden sich vom Auftreten dieser beeinflussen lassen. In den USA, schildert er, tobe bereits ein Kulturkampf, dort seien teilweise Schriften von Platon, Kant oder auch Goethe „in Giftschränken verschlossen“ worden – weil diese Denker angeblich den Rassismus geduldet oder keine gender-gerechte Sprache verwendet hätten. Das sagt Bley in Hannover, wo vor nicht allzu langer Zeit der Vorgänger des OB, ein Sozialdemokrat, die Einführung des Gender-Sternchens im amtlichen Sprachgebrauch als großen Fortschritt gefeiert hatte.

Die Diskussionsrunde, an der sich im Netz mehr als 100 Teilnehmer beteiligten, nimmt dann einen sonderbaren Verlauf. Die noch von Hermann erwähnte Fülle der fragwürdigen Erscheinungen (Gender-Sprache, Straßenumbenennungen, Äußerungen von Uni-Gremien) kommt kaum zur Sprache, Bley aber muss sich mehrfach rechtfertigen etwa für seine Ansicht, dass der Sklavenhandel kaum zu erklären sei ohne die Mitwirkungen der Afrikaner selbst („Nicht alle Afrikaner waren Opfer, als die sie sich charakterisieren“). Dann wird im Chat gerügt, in der Debattenrunde sei kein Farbiger am Tisch. Andere bemängeln, dass man doch auch die Initiative „Idira“ hätte einladen müssen. Die aber, wird erwähnt, verweigere sich bisher einem Dialog mit Bley.

Vielfältige Formen der Identitätspolitik

Identitätspolitik geht viel weiter, die Erscheinungsformen sind vielfältig – und höchst aktuell. An dem Tag, an dem die SPD Hannover mit dem Afrika-Experten diskutiert, hat die SPD/CDU-Koalition im Landtag einen Antrag beschlossen, der künftig das Verbot bestimmter Autokennzeichen, die Assoziationen an die NS-Vergangenheit wecken könnten, vorsieht. Die Frage, ob eine solche Symbolpolitik, die das Vorgehen gegen Rechtsextremismus auf reine Äußerlichkeiten und optische Merkmale beschränkt, überhaupt sinnvoll ist oder nur von politischem Versagen ablenkt, wird zwar in der Landtagsdebatte auch erwähnt – aber nur ganz am Rande und beiläufig. Man lade, wenn man sich auf dieses Gleis begebe, die Spinner zu einem Wettbewerb um die Symbole ein, erklärt im Landtag ein AfD-Abgeordneter. Eine Koalitionsabgeordnete betont hingegen, dass das Unterbinden bestimmter Buchstabenkombinationen auf den Autokennzeichnen für sie „ganz wichtig“ sei. Damit zeige man deutlich, dass man „keinen Millimeter nach rechts gehen“ wolle. Die Form übermannt auch hier den Inhalt.

Mit den Kriterien Ethnie, Geschlecht und Hautfarbe lassen sich politische Strukturen nur begrenzt verändern.

Wolfgang Jüttner

In der SPD-Debatte meldet sich dann noch der frühere Landesvorsitzende Wolfgang Jüttner zu Wort, der seit vielen Jahren zu den theoretischen Vordenkern seiner Partei gezählt werden kann. Und Jüttner wird deutlich: Es könne doch nicht sein, dass es linke Gruppen gibt, die ihre Toleranz dann enden lassen, wenn sie erkennen, dass die eigene Haltung nicht mehr mehrheitsfähig ist. „Mit den Kriterien Ethnie, Geschlecht und Hautfarbe lassen sich politische Strukturen nur begrenzt verändern“, mahnt Jüttner. Wer so argumentiere, blende die soziale Frage aus, nämlich die nach der Gerechtigkeit in der Gesellschaft und der gleichberechtigten Teilhabe aller Gruppen an den Chancen.

Es geht nicht an, dass wir solche Diskussionen nicht zu Ende führen.

Adis Ahmetovic

Über anderthalb Stunden zieht sich die Diskussion hin, und SPD-Stadtchef Adis Ahmetovic sieht sich zum Ende zu einem flammenden Appell veranlasst. Während der Veranstaltung hatten viele Teilnehmer ihre Empörung geäußert und abgeschaltet – einige auch deshalb, weil sie für die Positionen von Bley kein Verständnis zeigten, andere, weil in der Debatte „die Emotionalität gefehlt“ habe. „Es geht nicht an, dass wir solche Diskussionen nicht zu Ende führen“, mahnt Ahmetovic. Die SPD sei eine Partei der Vielfalt, und das heiße auch, dass jeder die Ansichten der anderen aushalten müsse und „niemand einfach davor weglaufen darf“. (kw)