Von einem „Elefanten im Raum“ kann keine Rede sein. Dieser Hinweis ist nur dann erlaubt, wenn in einer Veranstaltung ein Thema alles überlagert, das aber von niemandem direkt angesprochen wird. Bei der Versammlung des Niedersächsischen Städtetages (NST) in Hannover ist allerdings schon über das große Problem geredet worden, das gerade alle Bürgermeister und Ratsmitglieder umtreibt. Es ist die Zuwanderung, die Flüchtlingswelle – von der man vermutet, dass sie im bevorstehenden Herbst und Winter noch richtig heftig werden könnte. Aber in ihren Ansprachen vor den rund 400 Kommunalvertretern waren viele Redner trotzdem bemüht, die aktuellen Sorgen und Nöte rund um die Zuwanderung nicht zu sehr in den Mittelpunkt zu stellen. Ein bisschen „Elefant“ also doch.

NST-Präsident Klingebiel referiert in der Städteversammlung | Foto: Wallbaum

Im internen Teil der Städteversammlung hatte es noch einen kleinen Eklat gegeben. Ein Teil der Runde, darunter bis auf einen alle Oberbürgermeister, wollte angesichts von Flüchtlingskrise und Haushaltsproblemen den folgenden Satz in die aktuelle Resolution schreiben: „Der Blick in die Zukunft ist düster“. Dagegen begehrten andere auf, teilweise auch Kommunalpolitiker der Grünen. Sie setzten sich mit der abgeschwächten Formulierung durch: „Der Blick in die Zukunft ist herausfordernd.“

Warum diese Vorsicht? Manche meinen, die schonungslose Beschreibung der Situation nütze am Ende nur den Rechtspopulisten. Andere entgegnen, die Lösung der Probleme beginne mit der Anerkennung der Wirklichkeit. Zu dieser zweiten Gruppe gehört eher der NST-Präsident Klingebiel. Schon vor einem Jahr, sagte er in seiner Rede im öffentlichen Teil der Versammlung, hätten die Kommunen vehement vor einer Überforderung gewarnt. Schon damals, auf dem Höhepunkt der Zuwanderungen aus der Ukraine, habe man auf die Belegung von Turnhallen und Freizeitheimen hingewiesen und von Bund und Land gefordert, die Zuwanderungen stärker zu lenken und zu begrenzen. Passiert sei aber bis heute nichts. „Wir haben dann im Februar mit Bundesinnenministerin Nancy Faeser gesprochen und dann im Mai mit Kanzler Olaf Scholz. Aber von den Ergebnissen sind wir maßlos enttäuscht. Der Bund weigert sich nach wie vor, die Kosten zu übernehmen.“

Daniela Behrens spricht bei der Städteversammlung. | Foto: Wallbaum

Die eine Milliarde Euro, die von der Bundesregierung in Aussicht gestellt worden sei, bedeuteten für Niedersachsen gerade mal 95 Millionen Euro – „das ist ein Tropfen auf den heißen Stein“. Bezogen auf Hannover würden das 9 Millionen Euro sein, die Landeshauptstadt hat aber nach eigener Darstellung Kosten eines Vielfachen davon. Klingebiel betonte, dass die Kommunen „eine Atempause brauchen“. Die Bemühungen auf Bundesebene und EU-Ebene, den Flüchtlingsstrom zu begrenzen, müssen nun nach Klingebiels Worten endlich Früchte zeigen. Auch das Land sei gefordert, mehr eigene Plätze für die Erstaufnahme zu schaffen. Immerhin habe der frühere Innenminister Boris Pistorius von 20.000 möglichen Plätzen gesprochen. Derzeit sind es nur die Hälfte.



Was Klingebiel in der Städteversammlung nicht so deutlich sagte, war der Ruf nach mehr Grenzkontrollen, nach konsequenter Rückführung abgelehnter Asylbewerber und nach einer fairen Verteilung der Flüchtlinge in den EU-Staaten. Am Montag, beim Gipfel mit Innenministerin Daniela Behrens, hatte er das noch getan. Was ihn jetzt bremste, war möglicherweise die auch in der Städteversammlung durchaus verbreitete abweichende Position, die Hannovers OB Belit Onay (Grüne) in seinem Grußwort ausdrückte. „Wir sollten aufhören, Scheinlösungen zu propagieren wie eine Sicherung der Grenzen, die nur Rechtspopulisten helfen. Das Grundrecht auf Asyl gilt nun mal, die Menschenrechtskonvention gilt auch.“

Nicht Debatten über Abgrenzungen oder Obergrenzen würden Deutschland weiterbringen, „sondern nur die bessere Unterstützung der Kommunen bei der Aufnahme der Flüchtlinge“. Ein „atmendes System“ sei nötig, das mehr Bundeshilfen ermöglicht, sollten auch mehr Flüchtlinge ankommen. Parallel zur Städteversammlung lief über die Ticker eine Mitteilung von Ministerpräsident Stephan Weil, wonach der Bund sich hier in einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe schon bewegt habe. Das „atmende System“ solle kommen. Nur die Summe sei noch weiterhin strittig.

„Wenn es Grenzen der Unterbringung gibt, wenn die Integration nicht mehr geleistet werden kann – dann darf man das nicht ignorieren.“

Interessant war in der Städteversammlung die Rede von Innenministerin Daniela Behrens (SPD), die sie frei am Mikrophon vortrug, kaum auf ihr Manuskript schaute und in fast allen Passagen lebhafte Zustimmung des NST-Präsidiums erntete. Man kann die Worte von Behrens auch als Erwiderung auf Onay verstehen. „Wenn es Grenzen der Unterbringung gibt, wenn die Integration nicht mehr geleistet werden kann – dann darf man das nicht ignorieren. Es muss erlaubt sein, darauf hinzuweisen, ohne dass dies als ,populistisch‘ bezeichnet wird.“ Das muss klar auf Onay gemünzt gewesen sein. Die Zuwanderungszahlen würden ständig steigen, sagte Behrens, jüngst seien es 500 an einem Tag gewesen.

Belit Onay spricht bei der Städteversammlung. | Foto: Wallbaum

„Ich erwarte vom Bund, dass er die faire Kostenverteilung sicherstellt – spätestens in der Ministerpräsidentenkonferenz im November“, betonte die Ministerin. Der Plan, die Landes-Plätze für die Erstaufnahme von derzeit rund 10.000 auf 20.000 zu erhöhen, bleibe weiter bestehen. Wegen der Hannover-Messe und dem Wunsch der Bundeswehr, die Kaserne in Fallingbostel-Oerbke wieder zu übernehmen, habe man 5000 Plätze wieder zurückgeben müssen. Wichtig sei aber, dass nicht jeder neue Standort-Wunsch des Landes für neue eigene Aufnahmelager Gegenwind erfahre, sondern dass die betroffenen Kommunen darauf aufgeschlossen und unterstützend reagieren.

In der Städteversammlung wurde noch über weitere Forderungen diskutiert:

Mehr Geld für Kommunen: Für den Kommunalen Finanzausgleich (KFA) sollen statt bisher 15,5 Prozent einer bestimmten Summe der Steuereinnahmen des Landes künftig 17,5 Prozent fließen. Das seien 700 Millionen Euro mehr, sagte Klingebiel. Der Finanzminister Gerald Heere (Grüne) habe es abgelehnt, dies als Teil der Diskussion über eine KFA-Reform zu prüfen. Innenministerin Behrens aber zeige sich aufgeschlossener, meinte Klingebiel. Behrens sagte, Mitte 2024 sollten zu diesem Thema „die Schlüsse gezogen werden“.

Bitte an Kommunalaufsicht: Der NST-Präsident rügte, die Kommunalaufsicht im Innenministerium dränge die Kommunen zu Sparkonzepten und Steuererhöhungen. Das Grundproblem sei aber, dass die Landes- und Bundeszuweisungen nicht mehr reichten, nur die kommunalen Pflichtaufgaben zu bezahlen. Die Kommunalaufsicht müsse den Kommunen „mehr Beinfreiheit geben“. NST-Vizepräsident Jürgen Krogmann meinte, derzeit würden die Kommunen in eine immer höhere Verschuldung getrieben – das führe dann in fünf oder zehn Jahren dazu, dass dann großflächig neue Entschuldungsprogramme gestartet werden müssten.



Appell an die Grünen: Behrens und Weil hatten den Kommunen signalisiert, dass eine Verlängerung der Bürgermeister- und Landräte-Amtszeit von derzeit 5 auf 7,5 Jahre kommen könne. Klingebiel sagte, er nehme aber bei den Grünen eine „Reserviertheit“ bei dem Thema wahr, sie sollten doch dazu „ihren Segen geben“. Am Rande diskutiert wird auch eine Amtszeit von 6 Jahren, parallel könnte die Amtszeit der kommunalen Räte und Kreistage von 5 auf 6 Jahre verlängert werden.

Verwaltungsreform: Behrens bot dem NST Gespräche darüber an, welche staatlichen Aufgaben wegfallen können und welche Prozesse vereinfacht werden können. Das sei nötig, weil es künftig nicht mehr ausreichend Verwaltungsmitarbeiter geben werde. Landtagsvizepräsident Jens Nacke meinte, die Politiker hätten sich zu sehr daran gewöhnt, geforderte Zusatzaufgaben dann doch zu machen und auf eine Kostenteilung zu drängen – anstatt gleich offen zu sagen, dass für die neuen Aufgaben kein Geld und kein Personal da ist.