Jörg Niemann, der jahrzehntelang den Landesverband der Ersatzkassen in Niedersachsen geleitet hat, verabschiedete sich kürzlich in den Ruhestand. Er wirft einen kritischen Blick zurück auf das System der Gesundheitsversorgung in Deutschland – und rechnet sich an, Schrittmacher bei den notwendigen Krankenhausfusionen gewesen zu sein. Niemann äußert sich im Interview mit dem Politikjournal Rundblick.

VdEK-Chef Jörg Niemann (rechts) und Pressesprecher Hanno Kummer – Foto: kw

Rundblick: Herr Niemann, nach mehr als 30 Jahren treten Sie als Leiter der Landesvertretung der Ersatzkassen ab. Was sehen Sie als Ihren größten Erfolg – und wo sind Sie nach eigener Einschätzung nicht weitergekommen?

Niemann: Wir waren wohl die ersten, die die Notwendigkeit einer Veränderung der Krankenhauslandschaft thematisiert haben und uns für eine Angebotskonzentration ausgesprochen haben: bessere Qualität und mehr Wirtschaftlichkeit durch weniger Standorte. Wir mussten uns dafür viel Kritik anhören, aber inzwischen ist es Konsens in Niedersachsen, dass Veränderungen zugunsten einer kleineren Anzahl, dafür aber leistungsstärkerer Standorte notwendig sind. Zuletzt wurde das in der Enquetekommission bestätigt. Nach meinem Eindruck ist Niedersachsen inzwischen bundesweit führend mit vielen Projekten zur Schaffung größerer Krankenhäuser. An echte Misserfolge kann ich mich auch bei sorgfältiger Prüfung nicht erinnern. Allerdings bedauere ich, dass es allen Beteiligten lange Zeit nicht gelungen ist, die Auseinandersetzung um die Pflege zu versachlichen. Dazu gehört auch das Anerkenntnis, dass zu einem fairen Interessenausgleich auch die Interessen der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen gehören, die von Preissteigerungen unmittelbar betroffen sind.

Die Bürger werden nicht verstehen, wenn die Verwirklichung moderner Strukturen nach einer so langen und intensiven Diskussion am Geld scheitert.

Rundblick: Die Krankenhauslandschaft ändert sich in Niedersachsen – aber geht das schnell genug? Was muss man tun, damit der Irrglaube aufhört, in einem besonders nah gelegenen kleinen Krankenhaus werde man besser versorgt als in einem größeren, das womöglich weiter entfernt ist?

Niemann: Natürlich braucht eine solche Veränderung Zeit, aber es gibt mittlerweile an vielen Orten die Bereitschaft zu neuen Lösungen. Das Wissen, dass man in einem größeren, mit Personal und Geräten gut ausgestatteten Krankenhaus besser versorgt wird, auch wenn man etwas weiter fährt, setzt sich immer weiter durch. Das haben zuletzt auch Bürgerentscheide gezeigt. Nun kommt es darauf an, dass das Land auch die nötigen Finanzmittel zur Verfügung stellt, damit die neuen Projekte schnell begonnen werden können. Die Bürger werden nicht verstehen, wenn die Verwirklichung moderner Strukturen nach einer so langen und intensiven Diskussion am Geld scheitert.

Mit dem Betrieb eines Krankenhauses erwirbt man übrigens gleichzeitig die Berechtigung, deutschlandweit medizinische Versorgungszentren zu unterhalten, was in bestimmten Fällen auch das eigentliche Motiv für die Übernahme zu sein scheint.

Rundblick: Gibt es im System der Gesundheitsfinanzierung Fehlanreize, die zum Erhalt unwirtschaftlicher Krankenhäuser beitragen?


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Niemann: Das ist eindeutig so. Auch bei insolventen Krankenhäusern ohne Perspektive fand die Planungsbehörde im Sozialministerium bisher nicht die Kraft, diese Standorte zu schließen. Anders als in der Wirtschaft, wo es selbstverständlich ist, dass bei einem in die Krise geratenden Unternehmen ein Investor mit Kapital einsteigen muss, um das Unternehmen zu stützen, wird dies im Krankenhausbereich meist nicht gefordert. Es reicht, die GmbH-Anteile des bisherigen Trägers zu übernehmen, um so für wenige 10.000 Euro Besitzer eines Krankenhauses werden. Mehr Risiko trägt man dann auch nicht. Es ist bezeichnend, dass in den letzten Jahren solche Krankenhäuser nicht von renommierten Trägergruppen übernommen wurden, sondern von Investoren. Mit dem Betrieb eines Krankenhauses erwirbt man übrigens gleichzeitig die Berechtigung, deutschlandweit medizinische Versorgungszentren zu unterhalten, was in bestimmten Fällen auch das eigentliche Motiv für die Übernahme zu sein scheint.

Auch in Zukunft wird für den kranken Menschen der persönliche Kontakt zu einem kompetenten Arzt entscheidend bleiben.

Rundblick: Wenn Sie 20 oder 30 Jahre in die Zukunft denken – wie kann sich bis dahin die Gesundheitslandschaft verändert haben? Wird Telemedizin eine viel größere Rolle spielen? Werden die Krankenhäuser dann einen anderen Charakter haben?

Niemann: Blickt man 30 Jahre zurück, so sind die meisten der damaligen Prognosen und Erwartungen für die Zukunft eher nicht eingetreten. Die Beseitigung der Sektorengrenzen war schon damals ein großes Thema. Gleichzeitig hat die Corona-Pandemie gezeigt, wie sich Themenschwerpunkte unerwartet ändern können. Dennoch glaube ich, dass in 30 Jahren am Krankenhaus deutlich mehr ambulante Leistungen erbracht werden als heute. Auch die Arztpraxen werden größer und entwickeln sich zu multiprofessionellen Teams mit verschiedenen Gesundheitsberufen. Die Behandlungen schwerster Erkrankungen wird sich immer stärker auf qualifizierte und spezialisierte Einrichtungen verlagern. Die Telemedizin wird für die Kommunikation sicher an Bedeutung gewinnen. Wichtig wäre allerdings, ein Stückweit auf dem Boden zu bleiben und erst einmal die elektronische Patientenakte umzusetzen und deren große Potenziale zu nutzen. Und: Auch in Zukunft wird für den kranken Menschen der persönliche Kontakt zu einem kompetenten Arzt entscheidend bleiben.

Rundblick: Wir reden im Gesundheitssystem über steigende Ausgaben, sowohl für die Investitionen als auch für die Betreuung der Kranken – und zunehmend auch für die Pflege. Gibt es neue Wege, das alles zu finanzieren – und wie könnten die Wege aussehen? Befürchten Sie einen Anstieg der Kassenbeiträge?

Niemann: Die Gesundheitspolitik der letzten beiden Legislaturperioden war gekennzeichnet von einer Vielzahl kostentreibender Gesetze zugunsten der Leistungserbringer. Wir haben schon heute einen historischen Höchststand des Kostenniveaus erreicht. Die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung haben sich seit 2000 von 126 Milliarden auf über 260 Milliarden Euro mehr als verdoppelt, der Beitragssatz ist von 13,6 Prozent auf durchschnittlich 15,9 Prozent gestiegen. Nimmt man die Pflegeversicherung hinzu, dann ist mit einem Beitragssatz von annähernd 20 Prozent die Grenze der Belastbarkeit tendenziell erreicht. In den vergangenen Jahren wurde diese Politik begünstigt durch die äußerst gute wirtschaftliche Entwicklung. Jetzt macht sich aber Unsicherheit breit, wie sich die Beitragseinnahmen in den kommenden Jahren entwickeln werden. Eine Politik, jegliche Veränderungen durch zusätzliche Ausgaben zu erkaufen und Anbieter im Gesundheitswesen finanziell besser zu stellen, wird an ihr Ende kommen müssen. Für nächstes Jahr soll die bereits jetzt absehbare Finanzierungslücke noch durch einen weiter steigenden Bundeszuschuss geschlossen werden, für das Jahr 2023 droht aber eine Beitragserhöhung von 1,2 Prozentpunkten. Wenn diese nicht auf Dauer durch immer höhere Bundeszuschüsse geschlossen werden soll, dann wird es notwendig, Qualität, Effizienz und Wirtschaftlichkeit stärker in den Mittelpunkt zu stellen und den Kosten den tatsächlichen konkreten Nutzen für die Patienten gegenüberzustellen. Wir gehen von einem Konsens aus, dass es nicht zu einer Reduzierung der Leistungen für die Versicherten kommen soll – umso wichtiger ist es, künftig Ausgabenzuwächse zu begrenzen und die immensen Finanzmittel gezielt zu verwenden.