Die Kapazitätsgrenze sei erreicht, es könnten keine neuen Pflegebedürftigen mehr aufgenommen werden: Dieser Hilferuf mehrerer ambulanter Pflegedienste aus Niedersachsen gab im vergangenen Monat der Debatte um die Situation in der Pflege neuen Schwung. Die Experten bei der Gewerkschaft Verdi und der Diakonie haben jedoch mit einer solchen Notsituation längst gerechnet. Denn die Mischung aus einem komplizierten Refinanzierungssystem und fehlenden Tarifverträgen führe dazu, dass zum einen kaum noch jemand in der ambulanten Pflege arbeiten wolle, und zum anderen, dass viele Träger gar nicht mehr wirtschaftlich sein könnten. „Nicht immer machen mehr Geld für die Beschäftigten und die Einrichtungen den großen Unterschied, in der ambulanten Pflege aber braucht es dringend eine Verbesserung der Bezahlung und der Rahmenbedingungen“, sagt Rüdiger Becker, Vorstandsvorsitzender des Diakonischen Dienstgeberverbands Niedersachsen (DDN), der die Tarifverträge für zahlreiche Diakonie-Stationen mitverhandelt. Darüber hinaus müssten sich Kranken- und Pflegekassen endlich ihrer Pflicht bewusst werden und den Pflegeeinrichtungen alle tatsächlichen Kosten erstatten. „Sonst wird immer weiter am Personal gespart“, sagt Becker.

Gehaltsunterschiede von bis zu 500 Euro

Nur 15 Prozent der ambulanten Pflegeeinrichtungen in Niedersachsen bezahlen ihre Angestellten nach Tarif. „Zu denen, die nicht die Tarifbestimmungen anwenden, zählen nicht nur die vielen privaten Pflegedienste, auch etwa das Deutsche Rote Kreuz oder der Paritätische Wohlfahrtsverband“, sagt Annette Klausing, als Verdi-Gewerkschaftssekretärin zuständig für den Bereich Diakonie. Für die Angestellten bedeute das nicht nur Gehaltsunterschiede von teilweise 500 Euro, auch Urlaubstage, Arbeitszeit und die betriebliche Altersvorsorge seien immer wieder anders geregelt. „Da mehr als 80 Prozent der Pflegekräfte in Teilzeit arbeiten, führt das zu so absurden Situationen wie etwa der Dienstteilung, sodass die Pflegekraft am Vormittag einige Stunden arbeitet, dann mehrere Stunden frei hat und am Abend die restlichen Stunden leistet“, sagt Thilo Jahn, der als Gewerkschaftssekretär bei Verdi die ambulanten Pflegeeinrichtungen betreut. Dazu hätten sie selten frei, müssten an Wochenenden arbeiten und häufig einspringen, wenn Kollegen ausfallen. „Unsere Erfahrung ist, dass die meisten Pflegekräfte gern in ihrem Beruf arbeitet. Aber es wird ihnen oft unmöglich gemacht, den Beruf mit einem Privatleben zu vereinbaren.“


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Aus Sicht des DDN-Vorstandsvorsitzendem Becker liegt die Schuld an der schlechten Bezahlung auch in der Refinanzierungspraxis. „Natürlich versuchen manche Dienste, durch das Sparen beim Personal ihre Rendite aufzubessern. Die meisten allerdings können nur so wirtschaftlich bleiben.“ Die Pflegedienste machen ihre Ausgaben bei den Kranken- und Pflegeversicherungen geltend. Doch diese erstatten oft nur die gesetzlich vorgeschriebenen Soll-Zeiten, nicht aber, was tatsächlich geleistet wurde. „Das fängt schon beim Wege-Geld an. Bei der ambulanten Pflege sind etwa ein Drittel Fahrzeit, das ist aus unserer Sicht komplett Arbeitszeit“, sagt Volker Wagner, Geschäftsführer der Diakoniestationen Harz-Heide. Für die Strecke zwischen zwei Hausbesuchen rechneten die Kassen jedoch nur etwa drei Minuten Fahrzeit, der Durchschnitt liege aber bei rund sechs Minuten. „Das, was wir also für die Fahrzeit erstattet bekommen, deckt überhaupt nicht die Kosten, die dabei entstehen.“ Aber auch für die Refinanzierung anderer Leistungen gibt es immer wieder Probleme bei der Absprache, da in der ambulanten Pflege sowohl die Vorschriften für die Krankenversicherung wie auch der Pflegeversicherung gelten. „Das ist in der ambulanten Pflege sehr unglücklich, weil die Preise für ein und dieselbe Leistung unterschiedlich ausfallen“, sagt Wagner.

Verdi fordert allgemeingültigen Tarifvertrag

Während die Arbeitgeberseite daher klarere Regeln für die Refinanzierung fordert und Tarifverträge am liebsten für jeden Träger und sein individuelles Modell einzeln verhandeln will, strebt Verdi allgemeinverbindliche Tarifverträge an. „Hier ist auch die Politik gefordert. Es kann nicht sein, dass der niedersächsische Tarifausschuss eine Allgemeinverbindlichkeit etwa des Altenpflege-Auszubildenden-Tarifs ablehnt, weil man allgemein möglichst wenig allgemeinverbindliche Verträge haben will“, sagt Klausing.