Das niedersächsische Kultusministerium überarbeitet zurzeit in Zusammenarbeit mit interessierten Verbänden den Erlass zur Berufsorientierung in der Schule. Ungewohnt harsche Kritik vernimmt man dazu nun vom Landesjugendring. Der Verband habe Bedenken gegen die Planungen der Regierung, hieß es kürzlich in einer Mitteilung. Der Lebensrealität junger Menschen werde zu geringe Aufmerksamkeit geschenkt. Zudem wittert man bei den diskutierten Maßnahmen „Klassismus“. Gemeint ist damit eine Schlechterstellung von Menschen aufgrund ihres sozialen Status – also in diesem Falle von Schülern aus Familien mit geringem Einkommen.

Praktikum statt Lohnarbeit? | Foto: Amorn Suriyan via Getty Images

„Wir sehen mit Besorgnis, dass die vorgeschlagenen Maßnahmen zur Berufsorientierung oft eine Kluft zur tatsächlichen Lebenswelt junger Menschen schaffen könnten“, erklärte Regina Gehlisch, Vorstandssprecherin vom Landesjugendring Niedersachsen, und konkretisierte: „Insbesondere die Idee unbezahlter und ausgedehnter Praktika steht im Widerspruch zu einer gerechten und inklusiven Bildung.“ Die Frage nach der tatsächlichen Lebensrealität junger Menschen und der „Vermeidung von Klassismus und Ungerechtigkeit“ bliebe trotz einer Vielzahl diskutierter Möglichkeiten offen, heißt es dort. „Berufsorientierung darf Klassismus nicht verstärken“, betonte Gehlisch noch einmal ausdrücklich.

„Soziale Ungleichheiten dürfen durch die Berufsorientierung nicht verstärkt werden.“

Wie kommt der Landesjugendring zu der Annahme, das Kultusministerium verkenne die Lebenslage von Schülern aus finanziell schwächeren Familien? Auf Nachfrage des Politikjournals Rundblick erklärte Gehlisch, nicht alle Schüler könnten es sich erlauben, mehrere, teils längere, unbezahlte Praktika zu absolvieren. Teilweise seien die Schüler auf Lohnarbeit außerhalb der Unterrichtszeiten angewiesen, die dann aber mit den Praktikumszeiten kollidieren würde. Ein Praktikum zur Berufsorientierung würde also mit den Arbeitszeiten der Schüler kollidieren – und darauf angewiesen seien ja nur Kinder aus ärmeren Haushalten. „Soziale Ungleichheiten dürfen durch die Berufsorientierung nicht verstärkt werden“, mahnt Gehlisch.

Landesjugendring: Berufsberatungsangebote unerlässlich

Die Interessenvertretung der Jugendverbände sorgt sich außerdem um die Freizeitaktivitäten der jungen Menschen. Durch längere und häufigere Praktika werde jungen Menschen nicht nur die Teilnahme an Gruppenstunden von Jugendverbänden verwehrt, sie fielen zudem auch als „Teamer“ aus, die solche Gruppen anleiten könnten. „Dadurch können Angebote, insbesondere für Kinder, nicht mehr mit der nötigen Verlässlichkeit durchgeführt werden“, warnt Gehlisch. Darüber hinaus stellt sie die Sinnhaftigkeit der „vermehrten Berufsfelderkundungen“ insgesamt infrage. Statt einer Ausweitung der Berufsorientierung in Form von Praktika plädiert der Landesjugendring für Bewerbungstrainings, Peer-to-Peer-Angebote oder der Besuch von Ausbildungsmessen im Kontext der Schule. Diese Angebote müssten „unbedingt“ durch Berufsberatungsangebote ergänzt werden.

Hintergrund für die Kritik des Landesjugendrings sind die Pläne des Kultusministeriums, den Erlass zur Berufsorientierung an Schulen im kommenden Jahr neu zu fassen. Vor kurzem hatte das Ministerium die Ergebnisse einer Evaluation des bisherigen Erlasses von 2018 vorgestellt, in welche die Einschätzungen von rund 4000 Betroffenen eingeflossen waren. „Mit der Auswertung der Evaluation haben wir nun ein gutes Fundament, um den Erlass neu aufzustellen und die Angebote der Berufsorientierung weiterzuentwickeln“, erklärte Kultusministerin Julia Hamburg.



„Dass viele junge Menschen nach Abschluss der Schulzeit sagen, sie wissen nicht, was sie machen sollen, kann uns nicht zufriedenstellen. Auch sehen wir, dass vielfach das ‚Matching‘ nicht stimmt – es also Ausbildungsinteressierte und offene Ausbildungsstellen gibt, aber diese nicht zusammenfinden oder passen.“ Das Kultusministerium will bis zum Herbst einen ersten Entwurf für den neuen Berufsorientierungs-Erlass erarbeiten, der Anfang 2025 in die Verbändebeteiligung gehen und zum Schuljahr 2025/26 in Kraft treten soll.