Norbert Walter-Borjans, einer der beiden Vorsitzenden der SPD, rechnet nach der Bundestagswahl mit einem kreativen Umgang mit der Schuldenbremse – gleich, wer dann regiert. Außerdem äußert er sich zum Zustand der Koalition und zur aktuellen Situation seiner Partei. Walter-Borjans stand der Redaktion des Politikjournals Rundblick für ein Interview zur Verfügung.

SPD-Chef Norbert Walter-Borjans zu Gast in Hannover – Foto: MB.

Rundblick: Wenn die Corona-Krise irgendwann vorüber sein wird, fordern viele Politiker eine strikte Sparsamkeit und zügige Rückzahlung der hunderte Milliarden Euro Schulden, die der deutsche Staat jetzt aufgenommen hat. Was meinen Sie dazu?

Walter-Borjans: Dieses „fiese“ Virus, wie man in Köln sagen würde, kostet uns enorme Kräfte, auch finanziell. Wir haben in Deutschland so viel an Wirtschaftshilfen zur Verfügung gestellt wie die ganze übrige EU zusammengenommen. Es geht darum, gestärkt aus der Krise hervorzugehen und mit den Hilfen auch gezielt Weichen für die Zukunft zu stellen. Das darf nach Corona nicht in einer Vollbremsung enden. Nötig ist, Gas zu geben, und unsere solide finanzielle Basis lässt das auch zu. Ich warne davor, unser Land nach der Krise kaputtzusparen. Das nähmen aber diejenigen in Kauf, die die umgehende Tilgung aller Kredite für das Wichtigste halten, dazu noch den Soli für Top-Verdiener abschaffen und Steuern für die höchsten Gehaltsklassen senken wollen. Wenn wir das alles täten, wären dringende Investitionen nicht mehr möglich. Ich nenne die Digitalisierung, die Modernisierung der Verkehrswege, den Klimaschutz und den Bildungssektor.

Deutschland ist ein reiches Land, aber ich kann im Zug von Berlin nach Hannover nicht ohne Unterbrechung telefonieren und ein Internetzugang ist ein Glücksfall.

Rundblick: Aber Kredite belasten doch die kommenden Generationen…

Walter-Borjans: Belastet werden die nächsten Generationen doch nicht durch Kredite, die ihre Lebensgrundlagen und ihren Wohlstand sichern. Sie werden belastet, wenn wir notwendige Investitionen unterlassen und die Konjunktur einbricht. Deutschland ist ein reiches Land, aber ich kann im Zug von Berlin nach Hannover nicht ohne Unterbrechung telefonieren und ein Internetzugang ist ein Glücksfall. Das gilt auch für viele Regionen. Da wären kreditfinanzierte Investitionen definitiv ein Gewinn. Außerdem zehrt Wachstum die Schuldenlast auf. Hätten wir 1980 staatliche Kredite in Höhe von 80 Prozent der Wirtschaftskraft aufgenommen, würde dieser Betrag heute, vierzig Jahre später, nur noch 15 Prozent der gewachsenen Wirtschaftskraft ausmachen. Dazu kommen negative Zinsen. Wenn der Bund sich Geld leiht, muss er am Ende weniger als den geliehenen Betrag zurückzahlen.

Rundblick: Was sagen Sie den Leuten, die ihnen entgegnen, dass eine Ausweitung der staatlichen Kreditaufnahmen die Inflationsgefahr anheizt? 

Walter-Borjans: Eine Inflationsgefahr sehe ich nicht, die entsteht bei der Überhitzung einer vollausgelasteten Wirtschaft. Die haben wir nicht. Es geht je gerade darum, die Konjunktur anzukurbeln.

CDU und CSU kleben am Fetisch der schwarzen Null, obwohl das selbst konservative Wirtschaftsinstitute kritisieren.

Rundblick: Wenn Sie mehr staatliche Investitionen möglich machen wollen, stößt sich das an der im Grundgesetz verbrieften Schuldenbremse…

Walter-Borjans: Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Die demokratischen Parteien einigen sich darauf, der grundgesetzlichen Regelung den Charakter der Investitionsbremse zu nehmen. Dazu wäre eine Zweidrittelmehrheit erforderlich. Oder wir sorgen für einen Ausweg im Rahmen der geltenden Regelung – etwa über Sondervermögen oder Anstalten des öffentlichen Rechts wie die Förderbanken von Bund und Ländern. Als Finanzminister in Nordrhein-Westfalen habe ich ein Sanierungsprogramm für die Schulen über zwei Milliarden Euro veranlasst. Das Geld dazu kam von der Landesförderbank, die derzeit zinsfrei Kredite aufnehmen kann. Das Land hat die jährlichen Tilgungsleistungen übernommen. Die CDU/FDP-Nachfolgeregierung hat diesen Weg anstandslos fortgesetzt. Das ist eine zulässige und sinnvolle Lösung, die den Webfehler der Schuldenbremse korrigiert. Besser wäre es, den Webfehler zu beseitigen. Das wissen auch CDU und CSU. Aber sie kleben am Fetisch der schwarzen Null, obwohl das selbst konservative Wirtschaftsinstitute kritisieren.

Rundblick: Die Kreditaufnahme ist es nicht allein, Sie werben auch für eine höhere Besteuerung der Vermögenden…

Walter-Borjans: Was die Vermögensteuer angeht, geht es um Millionen-Vermögen, und es geht um einen maßvollen Besteuerungssatz – der weit unter dem liegt, was in diesen Kreisen aus Vermögen erwirtschaftet wird. Die Ungleichverteilung von Vermögen nimmt besonders in Krisenzeiten noch weiter zu. Eines darf wirklich nicht sein: dass wir Kredite aufnehmen, um damit die Steuern der Superreichen zu senken. Stattdessen wollen wir die ganz große Mehrheit der Einkommen entlasten. Dafür sollen die oberen fünf Prozent einen zumutbar höheren Beitrag leisten. Das stärkt die Kaufkraft vieler und kurbelt so die Konjunktur an. Faire Besteuerung erfordert auf europäischer Ebene aber auch ein Ende von Steuertricks mit gewaltigen Steuerverschiebungen: Für Konzerne muss künftig eine Mindestbesteuerung gelten, und Gewinne müssen dort besteuert werden, wo sie tatsächlich entstehen.

Rundblick: Eine Frage zum Zustand der Koalition. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn wird auch aus der SPD immer wieder scharf angegriffen. Sollte er zurücktreten?

Walter-Borjans: Als Teil der Regierung ist es unsere Pflicht, in einer so kritischen Phase auf Verbesserungen zu drängen, wenn etwas nicht gut läuft. Aber für sein Personal ist der Koalitionspartner selber verantwortlich. Eines ist dabei unübersehbar: die SPD-Ministerinnen und Minister Olaf Scholz, Franziska Giffey, Hubertus Heil, Svenja Schulze, Christine Lambrecht und Heiko Maas machen einfach den besseren Job. 

Rundblick: Das sagt Stephan Weil auch immer so, wenn man ihm solche Fragen stellt…

Walter-Borjans: Aber es ist ja auch so. Gerade in den Bereichen, auf die es jetzt ganz besonders ankommt – Gesundheit und Wirtschaft – läuft es nicht rund. Mundwerk gehört zur Politik – aber auch Handwerk. Bei Letztgenanntem hapert es da. 

Wolfgang Thierse ist ein Sozialdemokrat mit großen Verdiensten für unser Land. Daran besteht überhaupt kein Zweifel.

Rundblick: Richten wir zum Abschluss den Blick noch mal auf die SPD. War der Umgang führender SPD-Politiker mit Wolfgang Thierse richtig? Er hatte sich über den Rigorismus vieler Diskussionsteilnehmer im Streit über die Identitätspolitik beklagt – und er ist daraufhin von Saskia Esken und Kevin Kühnert scharf gerügt worden.

Walter-Borjans: Es ging um eine Frage, über die gesprochen werden muss. Dabei gab es Misstöne zwischen den direkt an der Debatte Beteiligten, die mittlerweile im Gespräch miteinander und auch in einer öffentlichen Erklärung ausgeräumt wurden. Wolfgang Thierse ist ein Sozialdemokrat mit großen Verdiensten für unser Land. Daran besteht überhaupt kein Zweifel.