Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine hat die Europäische Union bisher beispiellose Wirtschaftssanktionen gegen den Aggressor verhängt. Doch ihren eigentlichen Zweck, die Kriegsfähigkeit der Russen massiv einzuschränken, scheinen die Zwangsmaßnahmen nicht zu erreichen. Zu diesem Ergebnis kommt der EU-Handelsausschussvorsitzende Bernd Lange nach seinem jüngsten Besuch in der Ukraine.

Nach seiner Kiew-Reise ist EU-Politiker Bernd Lange zurück in Hannover. Die Hauptstadt der Ukraine sei im Vergleich zu seinem letzten Besuch im Jahr 2017 kaum noch widerzuerkennen. „Der Unterschied war erschreckend“, berichtet er. | Foto: Link

Der SPD-Politiker hatte kurz vor Ostern die Hauptstadt Kiew zusammen mit anderen EU-Ausschussvorsitzenden bereist und dabei zahlreiche Beweise dafür präsentiert bekommen, dass Bauteile aus westlicher Fertigung noch immer in russischen Bomben verwendet werden. Lange wundert das nicht, denn den 40 Ländern, die Russland mit Sanktionen belegen, stehen zahlreiche Anrainerstaaten gegenüber, in denen man den Russen offenbar beim Umgehen der Beschränkungen behilflich ist. Insbesondere über Kasachstan gelangen wohl zahlreiche sanktionierte Güter über die Grenze, aber auch andere Staaten wie etwa Serbien stehen im Verdacht. Der EU-Politiker aus Hannover fordert daher strengere Ausfuhrkontrollen bei militärrelevanten Gütern.

Die EU-Abgeordneten sprechen bei ihrer Ukraine-Reise in Kiew mit Spitzenvertretern der ukrainischen Regierung. | Foto: Büro Bernd Lange

„Die Ausstattung des Zolls ist nicht hinreichend, da müssen wir viel mehr Ressourcen einsetzen“, sagt Lange. Nur ein Prozent der Waren, die in die EU ein- und ausgeführt werden, werde kontrolliert. Sowohl personell als auch technisch müssen die nationalen Zollbehörden nach Ansicht des EU-Handelsausschussvorsitzenden aufrüsten. „Es gibt 150 unterschiedliche IT-Systeme, die teilweise nicht miteinander kompatibel sind. Es gibt kaum eine verlässliche Kommunikation“, kritisiert Lange.

Die EU-Politiker hatten sich in Kiew unter anderem mit Premierminister Denys Schmyhal, Verteidigungsminister Rustem Umjerow und Präsidialamtschef Andrij Jermak getroffen, der als die „graue Eminenz“ hinter Präsident Wolodimir Selenski gilt. Im Zentrum der Gespräche standen die EU-Handelserleichterungen für die Ukraine, die zum dritten Mal seit Kriegsbeginn verlängert werden sollen – doch der Widerstand dagegen wächst. „Da gibt es gerade im Agrarsektor erhebliche Bedenken. Wenn es um die Interessen großer Agrargesellschaften geht, ist es mit der Solidarität schnell vorbei“, ärgert sich Lange. Dass aus der Ukraine große Mengen an Honig, Mais, Zucker, Weizen, Hähnchenteilen oder Eiern zollfrei in die EU eingeführt werden können, schmeckt vielen Wirtschaftsakteuren und einigen Mitgliedstaaten überhaupt nicht.

Bernd Lange schüttelt Andrij Jermak, dem zweitmächtigsten Mann der Ukraine, die Hand. Auch David McAllister (vorne links) ist bei der Reise nach Kiew mit dabei. | Foto: Büro Bernd Lange

Lange geht davon aus, dass die bisherigen Freimengen für die Ukraine vor allem auf Druck von Frankreich und Polen deutlich gesenkt werden müssen. Der wirtschaftliche Druck auf die Ukraine, die in diesem Jahr mit einem Haushaltsdefizit von 37 Milliarden Euro rechnet, werde dadurch weiter steigen, warnt der EU-Politiker. Trotz aller Schwierigkeiten will er sich für eine dauerhafte Lösung der Zollfrage einsetzen, damit nicht jedes Jahr nachverhandelt werden müsse.

Lange betont, dass die Ukraine aus Europa viel mehr und nicht weniger Hilfe benötige. Der Luft-Boden-Marschflugkörper „Taurus“ sei in Kiew zwar kein Thema gewesen, dafür hätten die Ukrainer aber um mehr Unterstützung zur Abwehr von russischen Raketenangriffen gebeten. Hier widerspricht Lange der Grünen-Abgeordneten Viola von Cramon, die auch in der Ukraine war und später erklärte, dort ständig auf den „Taurus“ angesprochen worden zu sein. Hyperschall-Raketen würden laut Lange mittlerweile sogar eine Bedrohung für die Hauptstadt darstellen. Zudem könne die russische Artillerie an der Front etwa 8,5 Mal mehr Munition einsetzen als die ukrainische Seite. Bei der Truppenstärke gebe es ebenso ein klares Ungleichgewicht zulasten der Verteidiger, die höchstens 900.000 Soldaten ins Feld schicken könnten, von denen sich derzeit etwa 60.000 in der EU in Ausbildung befänden. „Um diese Schwäche auszugleichen, sind Hightech-Waffen und Qualifizierung erforderlich“, sagt Lange.

In unserem neuen Rundblick-Dossier finden Sie eine Sammlung von Artikeln mit Europa-Bezug. | Foto: Getty Images/Zbynek Pospisil

Der EU-Handelsexperte denkt auch bereits an die Zeit nach dem Krieg. „Der Wiederaufbau des industriellen Sektors ist ganz zentral“, betont er. Was die EU-Beitrittsverhandlungen betrifft, die noch in diesem Jahr starten sollen, zeigt sich Lange kompromisslos: „Wir haben deutlich gesagt: Es gibt da keinen Rabatt.“ Auch die Ukraine müsse die 35 Kapitel der Beitrittsvoraussetzungen erfüllen. Der SPD-Politiker erwartet vom Beitrittskandidaten vor allem den Aufbau einer schlagkräftigen Antikorruptionsbehörde. Außerdem dürfe es keine Diskriminierung der ungarischen Minderheit in der Ukraine mehr geben.