Soll Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier das Gesetz zur Legalisierung von Cannabis unterzeichnen? Nach Artikel 82 des Grundgesetzes steht dem Staatsoberhaupt das Prüfungsrecht vor dem Inkrafttreten von Gesetzen zu – er hat einzuschätzen, ob die geplanten Reformen mit dem Grundgesetz übereinstimmen. Sollte Steinmeier davon hier Gebrauch machen und das Vorhaben aufhalten? Oder sollte er das Gesetz unterzeichnen? Die Rundblick-Redaktion diskutiert darüber in einem Pro und Contra.

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Es gibt mehrere Gründe, warum das Gesetz zur Cannabis-Freigabe vom Bundespräsidenten aufgehalten werden sollte. Denn es gibt berechtigte Zweifel an der Vertretbarkeit der Neuerungen mit dem Grundgesetz. Der wichtigste betrifft Artikel 2: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“Steinmeier sollte sich daran orientieren, meint Klaus Wallbaum.

Der Hinweis auf das Recht des Bundespräsidenten, vor dem Inkrafttreten eines Gesetzes eine juristische Prüfung vorzunehmen, wird häufig falsch interpretiert. Oft wird das so verstanden, dass das Staatsoberhaupt einen formellen Check vornimmt – also schaut, ob die rechtlich vorgeschriebenen Wege eingehalten worden sind. Sind die Kompetenzen von Bund und Ländern ausreichend beachtet worden? Ist der Entstehungsprozess des Gesetzes so zu gewichten, dass für die parlamentarischen Beratungen in Bundestag und Bundesrat genügend Zeit war? Wurde die Position von Interessenverbänden in diesem Verfahren genügend berücksichtigt? Was in dieser Betrachtung oft vergessen wird, ist die Tatsache, dass dem Bundespräsidenten noch ein materielles Prüfungsrecht zusteht – also die Beurteilung der Frage, ob er die Inhalte der Neuregelung für verfassungsmäßig hält oder nicht. Das heißt: Die seit langem zwischen den Politikern im Bundestag und in den Ländern diskutierte Frage, was die Cannabis-Legalisierung alles anrichten kann, welche Chancen und Risiken sie mit sich bringt, geht auch Steinmeier etwas an. Von ihm wird erwartet, all diese Fragen abzuwägen und darüber ein eigenes Urteil zu fällen.

Deshalb sollte Steinmeier das vom Bundesrat vor wenigen Tagen gebilligte Gesetz zur Cannabis-Freigabe nicht unterzeichnen. Er sollte dafür formelle und materielle Gründe geltend machen. Die formellen Gründe liegen darin, dass für die Länder in der Folge erhebliche Probleme in der Umsetzung des Gesetzes entstehen – das gilt sowohl für die Polizei wie für die Justiz. Die Ordnungsbehörden von Kommunen und die Polizei müssen sicherstellen, dass die Schutzzonen, die für das Mitführen von Cannabis gelten, eingehalten werden. Das betrifft den Sicherheitsabstand zu Schulen und Kindergärten. Aber wie soll das praktisch geschehen? Die personelle Unterbesetzung der Polizei ist bisher schon ein wichtiges Thema. Wenn man nun die neuen Cannabis-Vorschriften ernst nimmt, verschärft sich der Zustand enorm. Folglich bräuchten die Länder Geld für eine personelle Verstärkung von Ordnungsbehörden. Woher soll das Geld kommen? Woher sollen die neuen Stellen kommen? Das bleibt unklar. Die Justizminister sollen die Haftentlassung von bereits verurteilten Rauschgifthändlern oder -konsumenten regeln. Allein in Niedersachsen geht es um 16.000 Verfahren, verbunden damit sind Fragen zu möglichen Ansprüchen auf Haftentschädigung. Niedersachsens Justizministerin Kathrin Wahlmann hat zu Recht noch wenige Tage vor dem Gesetzesbeschluss gefordert, die Strafbarkeitsregelung zeitlich zu verschieben, vom 1. April auf den 1. Oktober. Doch in das Gesetz wurde ihre Forderung nicht aufgenommen. Viele Bundesländer betonten ihre formellen Einwände nachdrücklich und unmissverständlich. Ein Vermittlungsverfahren wäre die logische Konsequenz gewesen – doch die Kraft zu einem solchen Schritt brachten die Bundesländer im Bundesrat nicht auf, trotz der erdrückenden Hinweise auf die massiven formellen Mängel und drohenden Folgewirkungen.

Steinmeier müsste bei einer objektiven Prüfung zu dem Ergebnis kommen, dass die Einwände der Länder übergangen wurden – weil die Landesregierungen mit Beteiligung der Grünen, auch in Niedersachsen, nicht die Kraft zur Anrufung des Vermittlungsausschusses aufbringen konnten. Die dem Bundesratsvotum vorgeschaltete Diskussion und das Gewicht der Argumente gegen Detailregeln des Cannabis-Gesetzes legten unbedingt nahe, dass das Gesetz noch einmal überarbeitet wird. Doch auf den letzten Metern unterblieb dieser Schritt. Steinmeier sollte darauf hinweisen und das Gesetz im jetzigen Stadium aufhalten.



Noch schwerwiegender sind die materiellen Bedenken zur Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz in einem anderen Punkt. In Artikel 2 des Grundgesetzes wird zwar die „freie Entfaltung der Persönlichkeit“ garantiert. Die Befürworter der Cannabis-Legalisierung verweisen darauf und meinen also, das schließe die Freiheit ein, sich von Drogen abhängig zu machen. So kann man es sehen. Doch im selben Artikel 2 heißt es auch: „Jeder hat das Recht auf Leben und auf körperliche Unversehrtheit.“ Nun gibt es Hinweise, dass der Cannabis-Konsum für Jugendliche unter dem 21. Lebensjahr zu schweren Schäden führen kann. Sicher, man kann dagegen einwenden: In Artikel 2 wird die „freie Entfaltung“ noch vor der „körperlichen Unversehrtheit“ erwähnt, außerdem ist die „körperliche Unversehrtheit“ nur als Recht und nicht als Schutzpflicht des Staates formuliert. Das stimmt. Gleichzeitig sagt aber die Lebenserfahrung, dass gerade jungen Menschen oft der Überblick über die Gefahren des Konsums und seine Grenzen fehlt.

Steinmeier könnte, ja er sollte den Artikel 2 des Grundgesetzes in diesem Fall gerade mit Rücksicht auf die Nachteile für Heranwachsende im Sinne eines präventiven Gesundheitsschutzes auslegen.

Die Freigabe würde ja auch bedeuten, dass ein Markt geöffnet wird – und in einem Markt kann der Verkäufer die Vorzüge seiner Produkte anpreisen, ohne auf die Risiken ausreichend hinzuweisen. Sicher, der Jugendschutz ist ein wichtiger Bestandteil des neuen Gesetzes. Ist er aber stark genug als Beschränkung, wenn zuvor der große Schritt der Öffnung, der Legalisierung, einem neuen Markt Tür und Tor öffnen? Steinmeier könnte, ja er sollte den Artikel 2 des Grundgesetzes in diesem Fall gerade mit Rücksicht auf die Nachteile für Heranwachsende im Sinne eines präventiven Gesundheitsschutzes auslegen. Das gilt umso mehr, da es das Bundesverfassungsgericht als Hüter der Verfassung bisher wiederholt abgelehnt hat, ein „Recht auf Rausch“ aus dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit abzuleiten.

Kurzum: Das Cannabis-Gesetz war ein unverantwortlicher Schnellschuss, das auf den letzten Metern unverständlicherweise durch den Bundesrat gepeitscht wurde. Der Bundespräsident sollte jetzt das Stoppschild aufrichten.