Für die Politik der kleinen Schritte und das zögerliche Krisenmanagement des Kultusministeriums zeigen Niedersachsens Schulleiter zunehmend weniger Verständnis. Bei der Herbsttagung des Schulleiterverbands SLVN richtete dessen Erster Vorsitzender René Mounajed deshalb Forderungen zum konkreten Handeln an Kultusministerin Julia Hamburg (Grüne), die krankheitsbedingt von ihrem Staatssekretär Marco Hartrich vertreten werden musste. Als erste Maßnahme forderte Mounajed, die Grundschulen im Land schnellstmöglich vollständig mit den benötigten Lehrkräften zu versorgen – und zwar zulasten aller anderen Schulformen gleichermaßen.

Schulleiter fordern: Alle Lehrer in die Grundschulen. | Foto: GettyImages/fotografixx

Bemerkenswert an diesem Votum ist: Diese Maßnahme zu unterstützen, sei von allen Vorstandsmitgliedern schulformübergreifend einstimmig beschlossen worden, erklärte Mounajed: „Wir alle wissen, dass die weiterführenden Schulen die basalen Kompetenzen, die in der Grundschule nur unzureichend ausgebildet werden konnten, nur schwer ausbilden können.“ Die Arbeit in den Grundschulen müsse deshalb als erstes sichergestellt werden. Als Instrument kämen für einen solchen Schritt nur Abordnungen in Frage. Hier hat der Schulleiterverband auch genaue Vorstellungen: „Ein Kollege mit sechs Stunden Abordnung bringt den Grundschulen wenig Unterstützung und sorgt nur für Planungs- und Koordinationsstress“, sagte Mounajed. Vielmehr müsse es so gehen, dass ein Kollege komplett oder zumindest mit einem Großteil der Stunden an eine Grundschule abgeordnet werde, damit dieser dann an der entsprechenden Grundschule täglich zur Verfügung stünde und dort auch eine Klassenleitung übernehmen könnte.

„Wenn wir eine Krise an der Basis haben – warum leisten wir uns einen vollfunktionalen Überbau?“

Als weitere „unbedingte Voraussetzung“ für eine solche Abordnung ergänzte der Verbandsvorsitzende, dass diese in punkto Besoldung und Stundenzahl nicht zulasten der abgeordneten Lehrkraft gehen dürfe. Als zweite entscheidende Maßnahme für ein vernünftiges Krisenmanagement formulierte Mounajed die Erwartung vieler Schulleiter, alle verfügbaren Kräfte an die Basis zu entsenden – also auch die an das Kultusministerium, die regionalen Landesämter und das Landesinstitut für schulische Qualitätsentwicklung versetzten Lehrkräfte. „Wenn wir eine Krise an der Basis haben – warum leisten wir uns einen vollfunktionalen Überbau?“

„Was die Lehrkräfte wollen, ist mehr Zeit, um die Aufgaben zu lösen, die ihnen am Herzen liegen.“

Diese Krise an der Basis mache allerdings mehr aus als nur der Lehrermangel. Diese Position vertritt jedenfalls Prof. Klaus Zierer von der Universität Augsburg. Der Ordinarius für Schulpolitik referierte auf der Verbandstagung über seine Sicht auf die Probleme an Schule und präsentierte dazu passende kurz-, mittel- und langfristige Lösungsansätze. Erst jetzt, wo das Kind bereits in den Brunnen gefallen sei, werde „das deutsche Bildungsdesaster“ genauer in den Blick genommen, rügte Prof. Zierer. Dabei legten internationale Vergleichsstudien der vergangenen 20 Jahre nahe, dass sich das Bildungsniveau in der Bundesrepublik seit 2010 kontinuierlich verschlechtere – nachdem Anfang des Jahrhunderts noch von einem positiven Trend gesprochen werden konnte. Die Defizite beschränkten sich dabei nicht allein auf kognitive Fähigkeiten, sondern beträfen ebenso die psychosozialen und die körperlichen Kompetenzen der Kinder. „Das muss uns aufhorchen lassen“, sagte Prof. Zierer und bezog dies auch auf den Zusammenhang, der zwischen dem allgemeinen Bildungsniveau auf der einen und der Wirtschaftsleistung sowie der Demokratiefähigkeit auf der anderen Seite bestehe.

Prof. Klaus Zierer | Foto: Kleinwächter

Am fehlenden Geld könne es derweil nicht liegen, sagte der Wissenschaftler und zeigte auf, dass sich die Ausgaben für den Bildungssektor im Zeitverlauf fast verdreifacht hätten. „Die Frage ist doch: Wofür geben wir das Geld aus?“ Geld alleine löse nicht die Probleme. „Was die Lehrkräfte wollen, ist mehr Zeit, um die Aufgaben zu lösen, die ihnen am Herzen liegen.“ Deshalb sollten Lehrer mehr Zeit für ihr Kerngeschäft erhalten und nicht etwa für die Wartung der IT eingesetzt werden. Die digitalen Bildungstools, zeigte Prof. Zierer auf, hätten ohnehin nur geringen Einfluss auf den Lernerfolg. Auch die höhere Lehrerbesoldung sorge nicht für einen besseren Bildungsbetrieb, allenfalls für eine höhere Attraktivität des Lehrerberufs. Stattdessen sollte mehr dafür getan werden, Quereinsteiger ins System zu bringen – und dabei eine pädagogische Nach-Qualifizierung parallel zur Beschäftigung zu ermöglichen.

Langfristig gehe es dann noch um eine gute Lehrerbildung (keine Lehrerausbildung), die zum einen von Wertschätzung durch die Gesellschaft getragen sein müsste. Die Äußerungen Gerhard Schröders („Ihr wisst doch ganz genau, was das für faule Säcke sind“) seien „schwer wirksam“ gewesen, bis heute. Zum anderen müsse die Lehrerbildung nun so gestaltet werden, dass die neuen Lehrkräfte besser auf die fachlichen aber auch didaktischen Herausforderungen vorbereitet werden. Prof. Zierer plädierte deshalb für eine engere Vernetzung von Studium und Fachpraxis vom ersten Semester an.

Niedersachsens Kultus-Staatssekretär Marco Hartrich hatte für die anwesenden Schulleiter kaum zufriedenstellende Neuigkeiten im Gepäck. Zwar referierte er über die bildungspolitischen Erfolge der rot-grünen Koalition, etwa die geplante Anhebung der Besoldung auf A13, und was diese haushalterisch bedeuteten. Reaktionen auf die Impulse des Verbandschefs blieben einstweilen aber aus. Nur zu der vorgebrachten Kritik an den neuen vergaberechtlichen Vorgaben für Klassen- und Studienfahrten teilte Hartrich mit, dass man dazu mit dem zuständigen Wirtschaftsministerium im Gespräch sei. Man wolle erreichen, dass der Schwellenwert für eine freie Vergabe angehoben wird. Neuerdings sehen sich Lehrkräfte gezwungen, für Klassenfahrten auszuschreiben beziehungsweise Angebotsvergleiche vorzunehmen, damit sich anschließend nicht Reiseanbieter, etwa Busunternehmen, über vermeintliche Vetternwirtschaft beschweren können.