Kann der vehemente Protest gegen den Staat Israel als Form des Antisemitismus angesehen werden? Auf diese Frage dürften einige linksgerichtete Organisationen mit Nein antworten. Die rot-grüne Landesregierung hat jetzt aber in einem Kabinettsbeschluss klargestellt, dass auch der vehemente Protest gegen Israel und das Bestreiten seiner Existenz einen judenfeindlichen Kern hat. „Wir haben uns jetzt einer Definition des Antisemitismus angeschlossen, die von der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) festgelegt worden ist. Dieser IHRA folgen 34 Staaten, darunter auch die Bundesrepublik Deutschland“, sagte Justizministerin Kathrin Wahlmann (SPD) am Dienstag nach der Kabinettssitzung.

Gerhard Wegner und Kathrin Wahlmann (2. v. r.) mit der LPK-Vorsitzenden Martina Thorausch. | Foto: Wallbaum

Die Ministerrunde sei einer entsprechenden Empfehlung des Antisemitismus-Beauftragten Prof. Gerhard Wegner gefolgt. Die Bundesregierung habe sich diese Begriffsbestimmung schon 2017 zueigen gemacht, nun folge auch Niedersachsen. Dies sei zunächst nur eine Arbeitsgrundlage zur Beurteilung von Erscheinungsbildern und Straftaten. In der Praxis ist es eine verbindliche Festlegung auf die Position, dass auch Anfeindungen des Staates Israel als antisemitisch einzustufen sind.

Die Definition lautet nun künftig so: „Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen. Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein.“

In den Erläuterungen führt das Justizministerium Beispiele dafür auf, was als antisemitisch begriffen werden kann: „Die Aberkennung des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung, etwa durch die Behauptung, die Existenz des Staates Israel sei ein rassistisches Unterfangen.“ Oder aber: „Die Anwendung doppelter Standards, indem man von Israel ein Verhalten fordert, das von keinem anderen demokratischen Staat erwartet oder gefordert wird.“ Erwähnt wird auch: „Vergleiche der aktuellen israelischen Politik mit der Politik der Nationalsozialisten.“

Der Antisemitismus-Beauftragte Wegner erklärte, auf einer Demonstration in Oldenburg sei jüngst gerufen worden: „Israel – Kindermörder“. Das dürfe nicht sein. Der Spruch „From the river to the sea, Palestine will be free” bedeute zudem nichts anderes als die Aufforderung zu einem neuen Holocaust. Nach den Worten von Wahlmann sind die Staatsanwaltschaften angewiesen worden, all jene antisemitischen Aktionen und Hass-Bekundungen zu verfolgen, die seit dem Hamas-Angriff auf Israel am 7. Oktober geschehen sind. Bisher sei die Zahl der Ermittlungsverfahren bei den niedersächsischen Staatsanwaltschaften sehr überschaubar, es gebe eine Handvoll Vorfälle. Die Ministerin vermutet, dass die Anzeigebereitschaft noch gering ist, womöglich dauere es auch etwas, bis Vorfälle in den Behörden aufbereitet und registriert werden.



Die Recherche- und Informationsstelle zu Antisemitismus (Rias) berichte allerdings von einer wahren Flut an Hass-Mails und antisemitischen Ausfällen im Internet. Auf die Frage, ob die strafrechtliche Verfolgung von antisemitischen Äußerungen und Aktionen auf der Basis der geltenden Gesetze ausreichend gut gelingen kann, antwortete Wahlmann mit einem Hinweis: Die Justizminister prüften gerade, ob der Tatbestand der Volksverhetzung eindeutig genug formuliert sei für eine effektive Bestrafung.

Häufig sei das Problem weniger die Bestimmung im Gesetz und mehr die Entscheidung der Staatsanwaltschaften und Gerichte, wie die Erscheinungen der Strafrechtsvorschrift zugeordnet werden sollen. Dazu biete nun die neue Definition von Antisemitismus eine Arbeitshilfe. Wahlmann betonte, mit dem 7. Oktober habe der Antisemitismus zugenommen – sowohl „in der deutschen Ursprungsgesellschaft“ wie auch unter den Zugewanderten. Der Landesbeauftragte Wegner ergänzte, die Empathie in der deutschen Gesellschaft zugunsten der Menschen in Israel sei steigerungsfähig.